Das Leben als Wolfskind
Vilnius (n-ost). Als Alfred Plink nach fast 50 Jahren seine beiden Schwestern Ursula und Helga wieder sah, fehlten ihm die Worte. Nicht nur, weil er zu Tränen gerührt war, die beiden Menschen zu treffen, die er für immer verloren gehalten hatte, sondern auch, weil er sein Deutsch zu großen Teilen verlernt hatte. Alfred Plink ist ein so genanntes Wolfskind. Eines von jenen Kindern, die nach Kriegsende in Königsberg umherirrten, die Waisen geworden waren oder ihre Eltern in den Kriegswirren aus den Augen verloren hatten. Viele dieser Kinder schlugen sich nach Litauen durch, um dem Hunger zu entfliehen. Sie vagabundierten dort von Hof zu Hof oder hausten wie die Wölfe im Wald. Wolfskinder eben.
Mittlerweile hat Alfred Plink durch den Kontakt mit seinen Schwestern seine Sprache wieder gefunden. Zwar klingt sein Deutsch ein wenig altmodisch, wenn er seine Gesprächspartner nicht duzt oder siezt, sondern jeden Einzelnen mit „Ihr“ anspricht, wenn er vom „45sten Jahr“ statt von 1945 spricht und jenen Akzent hören lässt, der für die Ostpreußen so typisch ist. Doch Worte fehlen ihm nicht mehr, wenn er von seinem Schicksal erzählt, dass in jenem „45sten Jahr“ begann.
Der Vater, ein Bauer, der 1931 ein Grundstück im 50 Kilomoter östlich von Königsberg gelegenen Dorf Taplaken (heute Talpaki) gekauft und dort ein Haus gebaut hatte, war bereits 1944 im Krieg umgekommen. Die Mutter, eine zarte Frau von 42 Jahren, stand allein da mit ihren vier Kindern, von denen der Älteste, Alfred, 14, die Jüngste, Helga, vier Jahre alt war. „Im halben April“, erinnert sich Plink, „kamen die Russen nach Königsberg, und wir mussten fliehen.“
Eine Weile irrte die Familie umher, entschloss sich dann aber doch in Königsberg zu bleiben. „Doch wir haben keine Ruhe gehabt. Die Russen haben uns das Haus weggenommen“, erzählt Plink mehr als ein halbes Jahrhundert später und lässt seine wachen blauen Augen durch den Raum schweifen bis sie an einer Landkarte hängen bleiben. Einer Karte, die das alte Ostpreußen zeigt.
Doch es kam noch schlimmer. Die Mutter starb ein knappes Jahr später. Die beiden jüngsten Kinder, Helga und ihr ein Jahr älterer Bruder Helmut, kamen ins Waisenhaus nach Pobethen (heute Romanowo), wo Helmut ein Jahr später starb. Die zweitälteste Ursula, die in der Nähe der kleinen Geschwister geblieben ist, und die kleine Helga werden 1950 in die DDR übergeführt und dort adoptiert. Doch davon sollte Alfred Plink erst 1993 erfahren, beim ersten Wiedersehen mit seinen Schwestern.
„Es war eine schwere Zeit, wir konnten nicht zusammen bleiben. Ich musste doch irgendwo hingehen, um Essen für uns zu besorgen“, erklärt der mittlerweile 85-jährige, der mit seinem dunklen Haar und regen Augen gut und gerne für 70 durchgehen würde. Zunächst arbeitete er für Russen auf den Feldern, dann versuchte er bei der Feuerwehr anzuheuern. Doch es gab nicht genug Arbeit und das Leben war für Deutsche gefährlich geworden. Schon in den letzten Kriegsmonaten hatte die sowjetrussische Armeeführung in Flugblättern die Bevölkerung extra zu Härte und Grausamkeit gegen die Deutschen aufgefordert. Überall herrschte Hunger, besonders im Winter.
Also entschloss sich Alfred Plink, in das Land zu gehen, von dem es hieß, es würde dort Brot geben: Litauen. Und damit wurde er eines von jenen Kindern und Jugendlichen, die die Litauer „vokietukai“, kleine Deutsche, nannten. Oder Wolfskinder, wie man sie heute bezeichnet. Plink schlug sich durch die Wälder und fand bei Bauern Arbeit als Landknecht, 1956 heiratete er die Litauerin Ona. „Auf Deutsch heißt der Name soviel wie Anna. So hieß auch meine Mutter“, sagt Plink. 1962 bekam er schließlich einen russischen Ausweis. Seine Kinder, Edwart und Tangole, wuchsen als Litauer auf, sprechen kein Wort deutsch.
„Einmal, 1965, war ich wieder dort“, erinnert sich Plink im Sommer 2005, dem Jahr in dem Königsberg seinen 750. Geburtstag feiert. „Einmal war ich wieder in der Heimat, in Königsberg.“ Doch das war ein Schock. „20 Jahre waren vorüber, doch ich hatte den Eindruck, dass es wie gleich nach dem Krieg war. Alles war zerstört und verbrannt wie im 45sten Jahr. Die Russen haben so viel vernichtet.“
Zum 750. Jubiläum macht der einen Bogen um Königsberg, obgleich er nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt in Litauen wohnt. Er möchte es nie wieder sehen, sein Königsberg, das heutige Kaliningrad. Doch im Herzen ist es immer seine Heimat geblieben.
„Wir haben alles verloren“, erklärt er stellvertretend für alle Wolfskinder, die es wie ihm ergingen, zu sagen. „Alles. Unsere Eltern, die Familie, das Haus, die Heimat.“ In Litauen fühle er sich wohl und beherrsche die Sprache besser als die ursprüngliche Muttersprache, „doch wir werden wohl bis zu unserem Tod Fremde bleiben.“
Eine Übersiedlung nach Deutschland, wie viele Wolfskinder es nach 1991 taten, als Litauen unabhängig wurde, kommt für ihn nicht in Frage. Damit würde er seine Frau Ona, die sehr krank ist, nur von ihrer Heimat trennen. Doch zu seinen Schwestern, die ihn nach jahrzehntelanger Suche 1993 mit Hilfe des Roten Kreuzes fanden, hat er regen Kontakt.
„Und hier habe ich ja nun auch Gleichgesinnte gefunden“, meint er und blickt rüber zu Siegfried Kösling, einem freundlichen alten Mann, der wie Plink ein Wolfskind war. Die beiden treffen sich von Zeit zu Zeit in Klaipeda, dem ehemaligen Memel. Hier, im Simon-Dach-Haus, dem Sitz der deutschen Minderheit in Litauen, hat auch der Verein „Wolfskinder Edelweiß“ seinen Sitz, den 200 Wolfskinder nach der Unabhängigkeit Litauens gründeten. Menschen wie Plink und Kösling, die hier auf andere stoßen, die wissen, wie es ist, zwischen zwei Kulturen zu leben. „Einige erinnern sich nicht einmal mehr an ihre deutschen Namen und sprechen kein deutsch mehr“, erzählt Plink. „Sie waren viel zu klein, als sie Wolfskinder wurden.“ Ihm und Kösling ist wenigstens das geblieben: der Name und die Erinnerung. An die Heimat Königsberg und das Leben als Wolfskind.
*** Ende ***
Alexandra Frank