Russland

Ein zweites Tschetschenien droht


Machatschkala (n-ost). Anfang Juli, an einem frühen Nachmittag, verübten Terroristen in der Republikhauptstadt Machatschkala einen Bombenanschlag auf einen vorbeifahrenden Armeelastwagen mit Angehörigen der russischen Spezialeinheit „Rus“. 12 Menschen kamen dabei ums Leben, mehr als 20 wurden teils schwer verletzt. Die Behörden machten für das blutige Attentat Rasul Makascharipow, Anführer der Organisation „Schariat“ und früherer Kommandeur in den Reihen von „Dschanet“ (Paradies), verantwortlich. Makascharipow, auch unter dem Namen „Muslim“ bekannt, soll ebenfalls hinter der Ermordung des stellvertretenden dagestanischen Innenministers Magomed Omarow und dem Minister für Nationalitätenpolitik Sagir Aruchow im Februar und Mai dieses Jahres gestanden haben.

„Diese Terroranschläge sind dazu da, um zu zeigen, dass die derzeitigen Machthaber die Situation nicht im Griff haben“, erklärte der erste stellvertretende Regierungsvorsitzende Gitinomagomed Gadschimagomedow gegenüber der Tageszeitung „Kommersant“. Diesen Frühling wurde erwartet, dass der Kreml das Oberhaupt Dagestans, Magomedali Magomedow, an seinem 75. Geburtstag im Juni zum Rücktritt auffordern würde. Diese Spekulationen wurden weiter genährt durch den Rücktritt des nordossetischen Präsidenten Alexander Dsasochow Ende Mai, der offiziell bekannt gab, er wolle der jüngeren Generation Platz machen. Doch das langjährigste russische Regionaloberhaupt Magomedow konnte bleiben, offenbar mit dem Segen des Moskauer Kremls.Dabei hatte er kürzlich erst in einem Bericht an Präsident Putin die nordkaukasischen Führer als äußerst korrupt bezeichnet.

In Dagestan leben mehrere Dutzend Volksgruppen, die sich unter einander in über 30 Sprachen verständigen. Magomedow ist ein Vertreter der Dargins, der zweitgrößten Ethnie nach den Anwaren. Unter seiner Führung wandelte sich das öl- und gasreiche Dagestan von einem Nettozahler zu einer Region, die 85 Prozent ihres Budgets aus Moskau bezieht.

Nach dem Anschlag von Anfang Juli mussten dennoch Köpfe rollen: Fünf Sicherheitsbeamte in höchsten Funktionen wurden entlassen. Die Antwort der Terroristen ließ nicht lange auf sich warten. Kurze Zeit später wurden der Parlamentsabgeordnete Subair Tatajew und sein Onkel in ihrem Auto erschossen. Bei einer Bombenexplosion in Machatschkala kamen zwei Polizisten ums Leben, drei wurden verletzt. Eine in der Nähe des hauptstädtischen Theaters angebrachte Bombe wurde zum Glück entdeckt und konnte rechtzeitig entschärft werden.

Im Laufe der nachfolgenden Polizeiaktion, bei der es den Sicherheitskräften gelang, das Haus des Terroristen ausfindig zu machen, wurde Makascharipow jedoch selbst zum Opfer. Gemäß den Behörden kamen er und ein Mitstreiter beim Feuergefecht mit den Sicherheitskräften ums Leben, zwei weitere Terroristen konnten fliehen. „Muslim“ soll Mitte der 90er Jahre den jordanischen Terroristen Emir Chattab getroffen haben, der sich zu dieser Zeit oft zu missionarischen Zwecken in Dagestan aufgehalten haben soll. Als Chattab und der tschetschenische Rebellenführer Schamil Bassajew 1999 mit einer Gruppe von Kämpfern nach Dagestan einfielen, diente er den Kommandanten als Übersetzer. Nachdem russische Streitkräfte die Rebellion niedergeschlagen hatten, kam Muslim in Gefangenschaft, die ihn für sein Leben prägen sollte. Rache für die dabei durch Folterung erlittenen Schmerzen sollen der Hauptantrieb für seine Gräueltaten nach der Haftentlassung 2002 gewesen sein. Unter anderem soll er einer „Butylotschka“ unterzogen worden sein, berichteten Muslims Bekannte gegenüber „Kommersant“. Dabei wird das Folteropfer auf eine Bierflasche gesetzt, wodurch innere Organe verletzt werden. Muslims Leichnam wurde seinen Verwandten nicht ausgehändigt, sondern in einem namenlosen Grab bestattet. So will es das föderale Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus.

Wie zwei spätere Anschläge auf einen Güterzug und die Gaspipeline nach Aserbaidschan zeigten, sind Dagestans Probleme mit der Erledigung des so genannten „Terrorist Nr. 1“ aber nicht gelöst. „Alle kämpfen gegen alle“, sagt der Kaukasus-Experte Alexej Malaschenko. Die Konfliktlinien verlaufen kreuz und quer: „ Es gibt das Problem der islamischen Opposition, dazu herrscht eine kriminelle Atmosphäre, Revanchismus gegen Beamte spielt ebenfalls eine Rolle, und zuletzt kommen noch Friktionen zwischen ethnischen Gruppen hinzu“, erklärt Malaschenko und hält fest: „Experten bezeichnen die Situation bereits als Bürgerkrieg.“ Noch gibt es keine einheitliche Trennlinie zwischen den Fronten, doch Malaschenko befürchtet, dass sich diese in naher Zukunft bilden könnte: zwischen islamischen Fundamentalisten und der Staatsgewalt. In den letzten Jahren sei der Islamismus in der Kaukasusrepublik aufgelebt. Gab es vor vier bis fünf Jahren nur gut drei extremistische Glaubensgemeinschaften, seien es heute bereits zwölf, meint Malaschenko. Der Nährboden für den radikalen Islamismus sieht der Experte des Moskauer Carnegie-Zentrums vor allem in der durch Armut und Arbeitslosigkeit geprägten sozio-ökonomischen Situation. Moskau, dessen Politik gegenüber Dagestan nur reaktiv sei, hätte auch Truppen senden können, erklärt Malaschenko - doch dafür sei es nun zu spät. Die Lage sei viel komplexer und gefährlicher als in Teschetschenien.


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