Russland

Der Gott von Tschukotka


MOSKAU (n-ost) - Von der Hölle in den Himmel, vom Waisenkind zum Milliardär, von der Eiswüste zur Steueroase: Das sind Geschichten, die das Leben selten schreibt, Märchenstoff, den das Diesseits wohl nur in revolutionären Zeiten bietet. Es sind Wundergeschichten aus Tschukotka, der Halbinsel am nordöstlichen Zipfel Russlands, wo im Winter die Sonne nie auf- und im Sommer nie untergeht. Hier in der Eiswüste am Polarkreis fand der Multimilliardär Roman Abramowitsch ein Spielfeld, um mit seinem Geld die Welt nach seinen Wünschen zu gestalten.

Roman Abramowitsch gibt sich gern bescheiden: Ein zweites Mal wolle er nicht Gouverneur von Tschukotka werden, erklärte der reichste Mann Russlands stets, dessen Amtszeit im Dezember endet. Doch an der Beringstrasse, das machte Putins stellvertretender Bevollmächtigter für den Fernen Osten kürzlich klar, wollen sie keinen anderen als den spendablen Patron des noblen englischen Fussballclubs FC Chelsea. Es dürfte Abramowitsch schwer fallen, die Bitte des Kremls auszuschlagen.

Mitte der 90er Jahre hatte Tschukotka ein Wunder bitter nötig. Im Zuge der Umstellung von der Plan- auf die Marktwirtschaft wollte Moskau den längst unrentablen Abbau von Bodenschätzen (90 Prozent der Industrieproduktion Tschukotkas) nicht länger subventionieren. Ohne staatliche Hilfe brach die Wirtschaft zusammen, die Preise schnellten in die Höhe. Was es noch zu holen gab, landete in den Taschen des damaligen korrupten Gouverneurs Alexandr Nasarow. Die Jungen und die Schlauen wanderten aus. Die zurückgebliebenen Familien harrten in den wenigen noch beheizbaren Gebäuden aus und ernährten sich von Fisch und Rentierfleisch, wie die Ureinwohner. Die Bevölkerungszahl sank von 170´000 auf 50´000.

Im Oktober 2000 wurde dann der damals 34-Jährige Roman Abramowitsch zum Gouverneur gewählt – mit 92 Prozent der Stimmen. Ein Märchen begann: Sogleich gründete er die Wohltätigkeitsorganisation „Pol der Hoffnung“. Der Multimilliardär schiffte Lebensmittel, kanadische Fertighäuser und Treibstoff nach Norden und ließ Schulkinder in den Sommerferien ans Schwarze Meer fliegen.

Endlich wurden die Löhne wieder regelmäßig ausgezahlt – aufs Bankkonto, abrufbar per Plastikkarte, um spontane Wodka-Einkäufe zu erschweren. Zum Aufbau einer neuen Infrastruktur brachte Abramowitsch seine eigene Mannschaft mit – Manager seiner Ölfirma Sibneft. Die Hauptstadt Anadyr erinnere an Berlin nach der Wende, berichtete die Iswestja: Überall töne der Lärm von Vorschlaghämmern, Baukränen und Betonmischern. Türken und Kanadier bauten neue Hotels, Ex-Jugoslawen brachten den Flughafen auf internationalen Standard. In der ganzen Provinz gibt es zurzeit über 800 Baustellen. In Abramowitschs Amtszeit verfünffachte sich das regionale
Bruttosozialprodukt, der Durschnittslohn beträgt heute für Russland atemberaubende 700 Dollar. Die Bevölkerung wächst wieder, die Geburtenrate steigt. Bei einer Internet-Umfrage auf www.chukotken.ru wussten 20 Prozent aller Teilnehmer auf die Frage „Wer ist für Sie Abramowitsch?“ nur eine Antwort: „Gott“.

Vom Waisenkind zum Multimilliardär: Viel wurde darüber spekuliert, warum der reichste Russe sich der ärmsten Landesregion annahm. Und warum er zu Gunsten des Gouverneurpostens auf die strafrechtliche Immunität eines Dumaabgeordneten verzichtete, die er noch 1999 besessen hatte.

Manche führen seine Großzügigkeit auf die eigene schwere Kindheit zurück: Bereits mit vier Jahren hatte Abramowitsch Vater und Mutter verloren. Verbreitet ist auch die Meinung, Tschukotka sei die Strafe des Kremls dafür, dass „Roma“ wie die meisten Oligarchen nicht legal zu seinen ersten Millionen kam. Sein Anfangskapital soll ein mit Heizöl beladener Zug gewesen sein, den er sich mittels gefälschter Dokumente aneignete. Sein steiler Aufstieg begann aber 1992, als er Boris Beresowskij - dem damals mächtigsten Oligarchen – begegnete, der ihn in die innersten Machtkreise einführte. Gemeinsam mit Beresowskij, der heute im Exil in London lebt, und anderen Gefolgsleuten kaufte Abramowitsch während der Privatisierung die Ölfirma Sibneft zu einem Spottpreis.

Gehegt wird auch die Vermutung, der Sibneft-Hauptaktionär wolle sich die Bodenschätze Tschukotkas unter den Nagel reißen. Tatsächlich gibt es hier Öl und Gas, für das Sibneft sich Förderlizenzen gesichert hat, doch der Abbau am Polarkreis ist schwierig und bisher unrentabel.

Näher an der Wahrheit dürfte eher noch der Witz liegen, demzufolge Abramowitsch einen Tunnel nach Alaska bauen wolle, um seine Milliarden nach Amerika zu schmuggeln. Nachdem sich der Druck auf die Oligarchen unter Putin erhöhte und auch Sibneft ins Visier der Ermittlungen geriet, verkaufte Abramowitsch seine Sibneft-Anteile an Michail Chodorkowskij (Jukos) und trennte sich von seinem Aeroflot-Aktienpaket und der Hälfte seiner Beteiligung am Aluminiumkonzern Rusal.

Den Milliardenerlös transferierte Abramowitsch ins Ausland - in seine Londoner Holding Millhouse Capital. Er selbst lässt sich dagegen nur höchst selten in seiner Provinz sehen, für die Details sind seine Berater zuständig. Seit dem Teilrückzug aus Russland widmet sich der Fuβballfan und Formel1-Liebhaber vorab dem internationalen Jet-Set und anstatt in politische Parteien investiert er sein Geld in Prestigeobjekte: 2003 kaufte der fünffache Familienvater, dessen Vermögen auf über zehn Milliarden Dollar geschätzt wird, den englischen Fussballklub Chelsea für 100 Millionen Dollar und investierte nochmals 400 Millionen für Spielerkäufe. Er legte sich prächtige Anwesen in England und Südfrankreich zu, kaufte sich eine Yacht für 90 Millionen und eine Boeing 767 für 100 Millionen Dollar.

Von der Eiswüste zur Steueroase: Die plausibelste Erklärung für Abramowitschs Tschukotka-Abenteuer ist aber wohl, dass sich der Multimilliardär dort ausnehmend günstige Steuerkonditionen geschaffen hat. 2004 wurden Ermittlungen gegen die Regierung in Tschukotka eingeleitet. Eine Reihe von Konzernen sollen durch eine Registrierung in der ostsibirischen Provinz Steuern umgangen haben. Sergej Stepaschin, der Vorsitzende des Rechnungshofes und ein alter Gegenspieler des Sibneft-Eigners, forderte den Rücktritt Abramowitschs von seinem Gouverneursposten.
Doch trotz Säbelrasseln wurde Abramowitsch, dem ein feines taktisches und psychologisches Gespür nachgesagt wird, vom Kreml bisher verschont. „Romas“ letzter Schachzug im Sommer 2004: Ein Sponsoring-Vertrag zwischen Sibneft und dem Fussballverein ZSKA Moskau über 55 Millionen Dollar sollte Kritiker verstummen lassen, die Abramowitsch vorwerfen, „unpatriotisch“ zu sein.

Seit diesem Jahr werden die Gouverneure in Russland nicht mehr gewählt, sondern vom Präsidenten auf Vorschlag des Bevollmächtigten des jeweiligen Föderalbezirks hin nominiert. Will der Kreml die Wähler in Tschukotka im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2008 nicht vergraulen, wird Putin den Oligarchen Abramowitsch im Dezember wohl für eine weitere Amtszeit einsetzen müssen. Genadij Apanasenko, stellvertretender Bevollmächtigter des Föderalbezirks Fern Ost, sprach sich kürzlich klar für eine zweite Amtszeit Abramowitschs aus. Die Menschen in Tschukotka lieben ihren „Roma“, dessen Steuerzahlungen einen beträchtlichen Teil des regionalen Budgets ausmachen. Und auβerdem: Rücktritt geschweige denn Amtsverzicht, dass gibt es gewöhnlich für Götter nicht.

*** Ende ***

Christian Weisflog


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