Einhundertfünfzig Meter für einen Nobelpreisträger
Von n-ost-Korrespondent Martin Sander (martin.sander@dradio.de), Tel.: 030/34503671
Warschau/Biłgoraj (n-ost). Ein Mensch, nach dem man eine Straße benennt, darf keinen Makel haben, sagt Marian Jagusiewicz, und es geht ihm dabei um den Literaturnobelpreisträger Isaac Bashevis Singer. Jagusiewicz wirkt unbeirrbar, ein alter Herr, der Vorsitzende des Bürgerkomitees in Biłgoraj. In der Stadt im polnischen Südosten leben ungefähr 25.000 Menschen, monotone Nachkriegsarchitektur beherrscht das Bild, dazwischen verbergen sich einige jener Holzhäuser, die einst typisch waren für Biłgoraj vor dem Zweiten Weltkrieg. In so einem alten Haus residiert das Bürgerkomitee, Wand an Wand mit Radio Maria. Ebenso wie der nationalkatholische Rundfunksender versteht sich Jagusiewiczs Komitee als Anwalt der polnischen Nation im Kampf gegen das Fremde, gegen Liberalismus, Kommunismus und Europa.
Radio Maria und das Bürgerkomitee haben weitere Verbündete in der Stadt. Die Liga für die polnische Familie gehört dazu, eine Partei rechts-katholischer Fundamentalisten, außerdem eine Organisation namens Allpolnische Jugend, die liberale Politiker in Warschau am liebsten längst verboten hätten – wegen antijüdischer Hetze. In Biłgoraj verfügt die nationale im Bündnis mit der bürgerlichen Rechten über die Mehrheit im Stadtparlament – und nutzt sie für etwas, was Außenstehenden absurd vorkommen mag. Sie will verhindern, dass eine Straße im Zentrum der Stadt nach dem Mann benannt wird, der den Namen Biłgorajs in alle Welt getragen hat – Isaac Bashevis Singer.
Immer wieder hat der jiddische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger über Biłgoraj und seine Umgebung geschrieben. Er zeichnete alte Legenden auf und erzählte aus dem Alltag der Menschen. Strenge Schriftgelehrte verwandelte er in literarische Figuren - ebenso wie zwielichtige Wunderrabbis, Narren, Ehebrecher oder falsche Propheten. Singer, 1904 in der Nähe von Warschau zur Welt gekommen, verbrachte einige Jahre seiner Jugend in Biłgoraj, wo sein Großvater mütterlicherseits, Jakub Zylberman, als Rabbiner wirkte. Damals stellten Juden über die Hälfte der Bevölkerung von Biłgoraj. Zylbermans Haus stand nicht weit vom alten Markplatz auf einer kleinen Anhöhe, in der Nähe der Synagoge. Ein Blockhaus, weiß getüncht mit einem moosbedeckten Dach, wird sich Isaac Bashevis Singer später erinnern.
1935 kehrte der Schriftsteller Polen für immer den Rücken und ging in die Vereinigten Staaten. Vier Jahre später, im September 1939, stand Biłgoraj in Flammen, auch das Haus der Zylbermans. Tausende von Juden wurden von den Deutschen in das Todeslager von Belżec verschleppt, nur einer Minderheit war zuvor die Flucht in die Sowjetunion geglückt. 1943 erschossen die Nazis die letzten Juden von Biłgoraj auf einem Platz mitten in der Stadt.
Dieses Massaker überlebte nur ein einziger Mensch, eine Frau, berichtet Janusz Rosłan. In der Nachkriegszeit bezogen Rosłans Eltern eine Wohnung in der Nähe, und Nachbarn erzählten ihnen von den Gräueltaten. Janusz Rosłan ist der Bürgermeister von Biłgoraj, um die vierzig, Deutschlehrer von Beruf, der in seiner Freizeit Musik macht und Theater spielt. Rosłan, ein Mann der Linken, möchte Weltoffenheit demonstrieren und so für seine Stadt werben. Der Bürgermeister war es, der den Stadtverordneten im Februar vorgeschlagen hatte, eine Straße nach Isaac Bashevis Singer zu benennen – eben dort, am Ort des Massakers. Das ist für Rosłan nicht allein eine Frage der Pietät. Eine Isaac-Bashevis-Singer-Straße im Zentrum von Biłgoraj könnte auch das Interesse der Besucher für die Vergangenheit der Stadt wecken, zum Beispiel für die einst gepflegte Kunst der Siebherstellung aus Roßhaar, für die man bis weit nach Russland und in die Ukraine berühmt war, und natürlich auch für seine jüdischen Traditionen, aus denen ein jiddischer Schriftsteller Weltliteratur machte.
Im sozialistischen Nachkriegspolen wurde die jüdische Geschichte des Landes weitgehend totgeschwiegen. Inoffiziell gediehen alte Vorbehalte, mal von kommunistischen Führern geschürt, um das Nationale zu betonen, mal als Stereotyp eines angeblich jüdischen Kommunismus von Gegnern des Systems gepflegt. Das in jiddischer Sprache verfasste Werk Singers wurde zum großen Teil erst in den neunziger Jahren ins Polnische übersetzt. Vor einigen Jahren eröffnete die Marie-Curie-Universität in Lublin, einhundert Kilometer von Biłgoraj entfernt, einen Lehrstuhl für jüdische Studien. Im Sommer 2003, zum 99. Geburtstag des Literaturnobelpreisträgers, veranstalteten die Lubliner Wissenschaftler ein Isaac-Bashevis-Singer-Festival in Biłgoraj und den Nachbargemeinden Goraj, Frampol und Krzeszόw, Orten, die außer Polen und polnischen Juden meist nur Leser von Isaac Bashevis Singer kennen. Zu Ehren des kleinen Festivals reiste damals sogar Singers Sohn aus Israel an. Inzwischen präsentiert das kleine Hochschulkolleg von Biłgoraj eine Dauerausstellung über Isaac Bashevis Singer. An der Einstellung vieler Bürger von Biłgoraj zur jüdischen Tradition ihrer Stadt und ihres Landes hat das alles bislang wenig geändert.
Die Straße, die nach dem Willen des Bürgermeisters den Namen Singers tragen soll, ist im Augenblick noch ein Sandweg, holprig und durchlöchert, ungefähr einhundertfünzig Meter lang. Doch den Gegnern Singers wäre auch das schon des Guten zuviel. „Wir haben nichts gegen normale, friedliebende Juden, doch sollten wir uns der Gefahr und der Ungerechtigkeit bewusst sein, die von eroberungslüsternen jüdischen und antipolnischen Kreisen in der Europäischen Union ausgehen“, so steht es in einem Flugblatt, unterzeichnet von der Liga für die Familie, der Allpolnischen Jugend und dem Bürgerkomitee. Was diese Tirade mit dem 1991 in Florida verstorbenen Dichter zu tun hat? Der örtliche Vertreter der Allpolnischen Jugend entschuldigt sich höflich. Gern würde er die Frage beantworten, allerdings nicht ohne Genehmigung des Landesvorstands seiner Organisation, der sei aber gerade nicht erreichbar.
Soviel Zurückhaltung kennt Marian Jagusiewicz vom Biłgorajer Bürgerkomitee nicht: Man sei von der Bedeutung Singers einfach nicht überzeugt, erklärt er, er habe die Welt in einem zu düsteren Licht dargestellt. Was er gemacht hat, ist Porno, Klosett-Literatur, das haben doch selbst die Juden über ihn gesagt, triumphiert Jagusiewicz, um dann auf die Frage, warum dieser Mann dann den Nobelpreis für Literatur erhielt, müde abzuwinken: Na ja, Nobelpreis, das schwedische Komitee ist auch nicht mehr das, was es einmal war.
Um die Singer-Straße zu verhindern, hat das nationalpolnische Bündnis von Biłgoraj einen Gegenvorschlag eingereicht. Die derzeit bekannteste namenlose Straße Polens soll nach Stefan Kardinal Wyszyński benannt werden, denn Wyszyński war, weiß Jagusiewicz, unser großer Pole, ein Patriot. Zweifelsohne: Der Kardinal und langjährige Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz diente mehrere Nachkriegsjahrzehnte nicht nur als Oberhirte seiner Kirche, er genoss auch stets den Ruf eines geschickten Strategen im Machtpoker mit den Kommunisten. Seit der Wende gibt es Wyszyński-Straßen in Polen zuhauf. In Biłgoraj gibt es noch keine. Ob man aber einen nur einhundertfünfzig Meter langen Weg nach einer so großen Persönlichkeit wie dem Kardinal und Primas der polnischen katholischen Kirche benennen sollte, fragte der Bürgermeister, mit seinem eigenen Vorschlag bei den Stadtverordneten durchgefallen, noch einmal und nicht ohne diplomatisches Gespür nach. Von mir aus soll sie kurz sein, entgegnet unbeirrt Marian Jagusiewicz jedem, der ihn danach fragt. Wir nehmen, was wir bekommen.
Um den Straßennamen in Biłgoraj wird weiter gestritten. Auch Janusz Rosłan gibt sich noch lange nicht geschlagen. Im Moment aber, sagt der Bürgermeister, könnten wir eine Denkpause gebrauchen.
*** Ende ***