Bulgarien

Musik für die Augen

Anfang der Neunziger Jahre, auf dem Markt der bulgarischen Industriestadt Dimitrovgrad. Der ehemalige Ingenieur Mitko Dimitrov verkauft Piraten-Kassetten, die er in Heimarbeit auf seiner „Pioneer“-Anlage vervielfältigt. Der Staatssozialismus ist gerade vom freien Markt abgelöst worden, die Wirtschaft des Landes liegt danieder, die Läden sind leer. Es sind Situationen wie diese, in denen Geschichte gemacht wird. Am selben Ort, wo 40 Jahre zuvor junge Frauen und Männer mit sozialistischem Pioniergeist eine Stadt mit Schwerindustrie in die Höhe zogen, betätigt sich Dimitrov auch als eine Art Pionier: in Sachen Musikbusiness. Schon bald verpassen ihm Freunde den Spitznamen „Mitko Paynera“. Als der Geschäftsmann sein eigenes Label gründet, macht er diesen zur Trade Mark.

Ob diese Geschichte wahr oder nur eine Legende ist, spielt eigentlich keine Rolle. „Payner Music“ ist heute der Marktführer im Popfolk-Business. „Tschalga“, so die bulgarische Bezeichnung des Genres, ist wahrscheinlich die am meisten gehörte Musik in Bulgarien. „Payner“ veröffentlicht jedes Jahr etwa 50 Alben und 20 Compilations. Zum Firmenimperium gehören ein TV-Sender sowie die über Franchise-Verträge laufende Discotheken-Kette „Planeta Payner“, deren Vergnügungstempel wie Pilze aus dem Boden sprießen. Über den Gewinn, den sein Unternehmen jährlich erwirtschaftet, schweigt Mitko Dimitrov. Das sei Firmengeheimnis, erklärt er gegenüber der Wochenzeitung „Kapital“. Wahrscheinlich, mutmaßt er, ist der Popfolk ein gutes Business, „zumal er Fußballstadien füllt“.


Was bedeutet Tschalga?

Der Begriff „Tschalga“ ist ein Turzismus in der bulgarischen Sprache. Er stammt vom türkischen Wort „çalgı“ ab und bedeutet soviel wie Musik machen bzw. ein Instrument spielen. Heute versteht man unter Tschalga die orientalisch klingende Popmusik.


Tschalga erschien zeitgleich mit dem magischen Datum 1989 auf der Bildfläche. Unmittelbar nach der Wende begannen Produzenten, orientalische Rhythmen und bulgarische Roma-Musik der Mottenkiste zu entreißen und traditionelle Folk-Arrangements gnadenlos mit zeitgemäßen Popelementen zu mischen. Oder aber man nahm einfach türkischen, serbischen und griechischen Ethnopop und schrieb einen bulgarischen Text dazu – fertig war der Hit.

„Alles passierte wie in einem schönen Hollywood-Märchen: Du gehst als Mädchen schlafen, und wachst als Star auf“, fasst Gergana ihren Werdegang zusammen. Die 20-jährige gilt als der neue Star am Popfolk-Himmel und sieht Pamela Anderson zum Verwechseln ähnlich. Eine Freundin habe ohne ihre Wissen ein Tape an „Payner“ geschickt und es hat geklappt: Der Produzent sei begeistert gewesen – nicht nur von der Stimme des Mädchens. „Diese Musik hört man mit den Augen“, pflegt auch Mitko Dimitrov zu sagen.

Nach bulgarischen Maßstäben verkörpert sie den Typ „natürlich-rockig“: die Sängerin Anelia, ebenfalls mit Traummaßen und langem schwarzen Haar ausgestattet. Wie ist eigentlich ihr Verhältnis zu den eigenen Songs? „Das einzige Lied, dessen Text ich mit mir verbinde, ist ,Liebe mich’. Aber ich habe mich in die Musik tief eingefühlt und deshalb die Lieder gut gesungen“, erklärt sie. Obgleich viele der Videoclips fast pornographisch wirken, geben sich die Tschalga-Stars als brave Bürger, die das vorexerzieren, was so viele Bulgaren in ihrem Leben vermissen: die perfekte Normalität. Das Geheimnis des persönlichen Erfolges klingt mitunter erschreckend bieder. Anelia: „Meine Seele ist rein, in mir gibt es weder Bosheit noch Neid, ich verlasse mich auf meine eigenen Kräfte. Ich bin jung, schön, Gott hat mir eine Stimme gegeben, einen lieben Mann, ein wunderbares Kind – was brauche ich mehr?“

Im Popfolk spiegelt sich das Wertesystem des Postsozialismus. Zur Ästhetik des sozialen Aufstiegs gehören ein erfolgreiches Business, schöne Frauen und dicke Autos. Es ist der Soundtrack zum Leben der Neureichen, der hier – vor allem von Frauen – gesungen wird.

Eine Karriere im Musikgeschäft versuchen auch diejenigen, die in anderen Bereichen kaum eine Chance haben, zum Beispiel Angehörige der Roma-Minderheit. Mit geschätzten neuen Prozent Bevölkerungsanteil sind sie außerdem eine relevante Zielgruppe. Die Marketing-Strategie scheint aufzugehen: Mittlerweile gibt es einige Stars, die der Minderheit angehören. Von diesen ist Azis ist der erfolgreichste. „Keiner kann dir so in die Augen schauen wie ich“, singt er, während er sich mit einem Mann in einem rosafarbenen Bett räkelt. In seinen Videos trägt er Phantasie-Kostüme und inszeniert sich als polysexuelles Wesen. In Bulgarien, wo Homosexualität noch immer ein Tabu darstellt, wirkt er deshalb wie ein Wesen von einem anderen Stern. Provokation hat sich auch hier als probates Mittel der Unterhaltungsindustrie etabliert.

Da Authentizität, Lebensnähe und Kontakt mit dem Publikum das A und O der Tschalga-Karriere sind, muss auch Azis durch die Provinz touren. Im Provinzstädtchen Blagoevgrad sind alle Tische in der geräumigen Folkoteka, eine Mischung aus Gasthaus und Diskothek, besetzt. Vor allem junge, modisch gekleidete Leute sind gekommen. Nachdem man zu Abend gegessen hat, wartet das Publikum ungeduldig auf den Star des Abends. Als Azis die Bühne betritt, ist der Jubel groß. Dass er in Blagoevgrad gelandet ist, scheint der Sänger nicht zu wissen. Doch die Fans nehmen es ihm nicht weiter übel. Nach kurzer Zeit sitzt kaum noch jemand auf seinem Platz, es wird auf Stühlen und Tischen getanzt.

Popfolk ist allgegenwärtig in Radiosendern, Bussen, Cafés und anderen öffentlichen Orten, ein dichtes Netzwerk an Labels, Radiostationen, Diskotheken und Konzertveranstaltern zieht sich über das ganze Land. Trotz seines Massenerfolgs gilt Tschalga als unmoralisch und unkultiviert. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Leute gibt, denen Popfolk nicht gefällt. Neunzig, um nicht zu sagen hundert Prozent hören ihn. Die Leute sagen, dass sie uns nicht hören, aber dann schenken sie uns Blumen und küssen uns die Hand“, meint wiederum die Sängerin Kamelia. Dennoch wird es wohl noch ein Weilchen dauern, bis Tschalga salonfähig wird. Und bis sich eine Meinung durchsetzt, wie sie beispielsweise in einem Internetforum über den Sänger Amet vertreten wird, der mit dem Lied „Gyzi gyzi“ – eigentlich ein Lockruf für Tiere – Furore macht: „Er ist ein großartiger Mensch, ein Reichtum für Bulgarien“.


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