Warum gerade Chodorkowski?
Von Christian Wipperfürth (Email: cwipperfuerth@email.de, Tel.: 030/24 62 78 15)
Moskau (n-ost) – Auch wenn Chodorkowski bis zum Schluss seine Unschuld beteuert hat, zweifelt kaum ein Beobachter daran, dass der 41-jährige Milliardär und seine Unternehmen, zu denen der Ölkonzern Jukos gehörte, beträchtliche Gesetzesverstöße begangen haben. Allerdings: Die Verfehlungen Chodorkowskis waren nicht einmalig, sondern geradezu typisch für die russischen Wirtschaftskapitäne der wilden 90er Jahre. Dass ausgerechnet er belangt wird, ist das eigentlich Überraschende an diesem Prozess.
Mehrere Theorien dafür kursieren: Putin und der russische Geheimdienst wollten einen Konkurrenten um die Macht ausschalten, heißt es da. Immerhin hatte sich Chodorkowski in den Jahren vor seiner Verhaftung karitativ betätigt und als Vertreter des Liberalismus einen Namen gemacht. Möglicherweise wollte der Kreml auch nur den Verkauf des Ölriesen Jukos an den US-Konkurrenten Exxon verhindern, mit dem der Oligarch kurz vor seiner Verhaftung am 25. Oktober 2003 verhandelt hatte.
Auch von Antisemitismus ist die Rede. Aliza Shenhar, die frühere Botschafterin Israels in Moskau, meint, dass die vom Kreml beeinflussten Zeitungen immer wieder einen jüdischen Hintergrund Chodorkowskis herausgestrichen haben, um in der Öffentlichkeit zu punkten. Doch weder der Oligarch, noch seine Rechtsanwälte haben diesen Vorwurf je erhoben. Sein Vater ist Jude, nicht aber seine Mutter, und er selbst hat sich nie als Jude bezeichnet. Trotzdem fällt auf, dass gerade die drei Oligarchen (Berezowski, Gussinski, Chodorkowski), die in den vergangenen Jahren den Zorn des Kreml zu spüren bekamen, mit einem jüdischen Hintergrund in Verbindung gebracht werden. Zufall?
Festzuhalten bleibt: Chodorkowski ist nicht der uneigennützige Streiter für Demokratie und Zivilgesellschaft, zu dem ihn manche stilisieren wollen. Sein Imperium zahlte kaum Steuern und es gibt glaubwürdige Berichte, dass er zu Beginn dieses Jahrzehnts mittels finanzkräftiger Argumente Gesetzesänderungen verhinderte, die nachteilig für ihn gewesen wären. Amnesty International weigert sich, ihn als politischen Gefangenen zu bezeichnen. Die Schweiz hat sein Privatvermögen in Höhe von fünf Milliarden Dollar nicht ohne Grund gesperrt. „Chodorkowski ist nicht Andrej Sacharow”, meint Andrej N. Mironov, ein früherer Dissident. „Er dachte nie an andere. Meines Erachtens ist er ein Gefangener der Gier, nicht des Gewissens.“
Chodorkowski ist unter anderem im Fall Apatit schuldig gesprochen worden, einem der zentralen Anklagepunkte. 1994 erwarb ein Unternehmen des Verurteilten 20 Prozent des Düngemittelunternehmens für lediglich 225.000 Dollar, obwohl es zu diesem Zeitpunkt einen Wert von 1,4 Milliarden Dollar besaß. Die einzigen vier Bieter im Auktionsverfahren gehörten zu Chodorkowskis Firmenimperium. Dies wurde durch die politischen Kontakte des Oligarchen ermöglicht. Der Käufer sicherte zu, 283 Millionen Dollar in Apatit zu investieren, was jedoch nicht geschah. Er verkaufte die Anteile an Dutzende kleinerer Unternehmen, die ebenfalls den Verurteilten gehörten. Diese Briefkastenfirmen waren in weit entfernten Insel-Steuerparadiesen registriert, was die Durchsetzung von rechtlichen Schritten wesentlich erschwerte. Diese Firmen wiederum verkauften die Apatit-Anteile an Dritte, sodass Chodorkowski riesige Gewinne einstreichen konnte, ohne investiert zu haben.
„Apatit war ein herunter gekommenes Unternehmen“, sagte Chodorkowski in seinem Schlusswort vor Gericht. „Die Behörden waren nur allzu glücklich es jemandem zu übereignen, der die Mitarbeiter davon abhält zu revoltieren. Das haben wir geschafft. Menschen, die damit Erfolg haben soziale Unruhen zu verhindern sollten belohnt, nicht bestraft werden.“
Chodorkowski ist alles andere als ein Unschuldslamm, aber es gab zu viele Ungereimtheiten in diesem Prozess, als dass man an ein wirklich rechtsstaatliches Verfahren glauben könnte, obwohl der Europarat vor wenigen Wochen ein eher optimistisches Bild von der innenpolitischen Entwicklung der vergangenen Jahre gezeichnet hat. Die Steuernachforderungen in Höhe von 27,5 Milliarden Dollar waren exorbitant. Zudem befremden die eigenartigen Umstände der Urteilsverkündung, die lange für den 27. April angekündigt war. Als die Rechtsanwälte Chodorkowskis zum Gerichtssaal kamen, fanden sie nach ihren eigenen Worten lediglich eine nicht unterschriebene Mitteilung vor, dass die Urteilsverkündung verschoben sei. Die Nachrichtenagentur Interfax berichtete, dass die Richterin Irina Kolesnikova das Urteil noch nicht habe fertig stellen können. Offiziell war wenig später von ihrer Erkrankung die Rede. Die Spekulationen schossen ins Kraut.
Kaum jemand zweifelt, dass für die Verschiebung politische Gründe vorliegen. Der „Fall Chodorkowski“ sorgt selbst innerhalb des engsten Kreml-Führungszirkels für Streit. Andrej Illarionov, Putins Berater für Wirtschaftsfragen ist immer für provokative Äußerungen gut. Er forderte vor wenigen Tagen, dass der Oligarch auf freien Fuß gesetzt werden solle. Und Putin hat sich kurz vor der angesetzten Urteilsverkündung unerwartet deutlich auf die Seite der Liberalen geschlagen, was die undurchsichtige Verschiebung des Urteilsspruchs erklären könnte.
Immerhin: Die Konzerne dürften die Botschaft, die mit der Verhaftung Chodorkowskis ausgesendet wurde, verstanden haben. Die Steuermoral ist beträchtlich angestiegen und die Bereitschaft gesunken, sich politischen Einfluss zu erkaufen. Genau dies war es, was Berezowski, Gussinski und Chodorkowski verband, nicht ein ethnischer Hintergrund.
Moskau ist die Stadt, mit den weltweit meisten Milliardären und die enorme materielle Ungleichheit in Russland wächst stetig. Christopher Weafer, ein bekannter Volkswirtschaftler in Moskau meint: „Diese Spannbreite kann man sich nicht allzu lange leisten, denn sie führt gewöhnlich zu höherer politischer Unsicherheit und Investitionsrisiken.“ Sogar die Welthandelsorganisation teilt diese Einschätzung. Sehr große soziale Ungleichheit begünstigt das Suchen nach Sündenböcken. Chodorkowski bot sich auch für diese Funktion an.
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Dr. Christian Wipperfürth