Die Sehnsucht nach Europa
BOSNIEN-HERZEGOWINA: Kanzler-Besuch / 10 Jahre nach Dayton
Sarajewo/ Mostar (n-ost) – Still geworden ist es um das Land mit dem Bindestrich „Bosnien-Herzegowina. So still, dass der Kurzbesuch des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder am vergangenen Dienstag fast schon zu den Höhepunkten des Jahres gehört. Der Kanzler kam, lobte die 1100 deutschen Soldaten, die seit 1996 mit ihren internationalen Kollegen erfolgreich für Ruhe sorgen und entschwand nach sechs Stunden Richtung Türkei. Wenig gesehen hat er von dem Land, das in einem der blutigsten Kriege nach 1945 in rivalisierende Volksgruppen zerfiel und mit dem Friedensabkommen von Dayton notdürftig wieder hergestellt wurde. Genau zehn Jahre sind seit dem Abkommen vergangen. Doch der Weg zur Normalität ist noch weit.
Die Straßen Mostars, der Hauptstadt der Herzegowina und nach Sarajewo zweitgrößten Stadt des Landes, sind zu jeder Tageszeit belebt. Ob früh morgens oder spät abends, die Menschen schlendern durch die Gassen der Altstadt, halten hier und dort ein Schwätzchen, auf dem Weg zur Arbeit, auf den Markt oder in eines der vielen Cafés. Wie hierzulande, haben auch Mostars Cafébesitzer ihre Tische auf die Straße in die Frühlingssonne gestellt. An einem der Tische sitzt Danijel Kulenovic. Er trinkt türkischen Kaffee – schwarz und süß – und raucht. „Mostar ist eine Geisterstadt“, sagt Danijel. Trotz der belebten Straßen? „Vor dem Krieg war Mostar die multiethnische Stadt Jugoslawiens. Heute ist es eine geteilte Stadt.“ Kroaten leben auf der Westseite der Neretva, die muslimischen Bosniaken im Osten der Stadt. Serben gibt es kaum mehr in Mostar. Danijels Vater war Moslem, seine Mutter Serbin. Danijel selber ist multiethnisch, in einem ethnisch geteiltem Land.
Der blutige Kampf in Mostar, die Belagerung Sarajewos, das Massaker von Srebrenica – das Dayton-Friedensabkommen setzte dem Morden ein Ende, aber das multiethnische Bosnien-Herzegowina scheint nicht zu retten. Bosniaken, Kroaten und Serben, drei Ethnien mit drei verschiedenen Religionen – muslimisch, katholisch und orthodox – und drei Sprachen – bosnisch, kroatisch und serbisch. Im alten Bosnien lebten sie friedlich zusammen, dann kam der Krieg und mit ihm die Spaltung dessen, was einst zusammengehörte. Heute bestimmt die ethnische Trennung das Leben, die Politik und sogar oft die Administration des Landes.
Zehn Jahre nach Dayton ist Bosnien-Herzegowina immer noch kein souveräner Staat. Die Grenzen, die der Friedenvertrag festlegte, stehen unter grosser Kritik. Das Land wurde in zwei Entitäten geteilt. Bosnien-Herzegowina besteht aus der zentralistischen Republika Srpska – der Repubik der bosnischen Serben – und der Föderation Bosnien-Herzegowina mit zehn Kantonen.
„Wir sind alle ein Volk. Ich bin kein Bosnier – ich bin Jugoslawe.“ Danijel sehnt sich nach Titos Jugoslawien, das er kaum bewusst kennengelernt haben kann. Fünfzehn Jahre alt war Danijel, als der Krieg in Bosnien begann. Er floh mit seiner Familie nach Kanada. Dort hätte er bleiben können, doch er kam zurück in seine Heimat, nach Mostar.
Allein in Mostar gibt es von allem zwei: zwei Müllabfuhren, zwei Feuerwehre und getrennte Radio- und Fernsehsender. Auf Landesebene gibt es von allem drei: drei Lehrpläne, drei nationalistische Parteien und drei Präsidenten. Das Dayton-Friedensabkommen sorgt für Ruhe und Frieden im Land, ist die Grundlage für das politische System und regelt sogar Flüchtlings- und Rückkehrfragen. Gleichzeitig wurde eine hochkomplexe Staatsstruktur kreiert, die ihren Preis hat. Über 60% des Staatsbudgets wird von Verwaltungskosten aufgefressen. Dabei wird das Geld an anderen Ecken – für Investitionen, für Soziales – mehr denn je gebraucht.
Es verläuft kaum ein Gespräch über Bosnien, ohne dass der Friedensvertrag diskutiert wird. Oft heisst es „so kommen wir nicht weiter! So kommen wir nie in die EU.“ Doch eine Revision des Dayton-Abkommens ist unwahrscheinlich, es ist wie die Verfassung des Landes.
Ein weiteres Merkmal Bosniens ist die internationale Präsenz und Unterstützung. Ohne die internationale Gemeinschaft wäre das Land nicht lebensfähig. Die EU-Sterne strahlen auf Förder- und Wiederaufbauplaketten, EUFOR-Soldaten flanieren durch die Fußgängerzonen und nicht zuletzt ist es der Hohe Repräsentant, der Brite Paddy Ashdown, der das letzte Wort im Staate hat.
Slobodan Medic traut der Internationale Gemeinschaft nicht ganz. „Warum kommen sie alle? Wollen sie uns wirklich helfen oder Einfluß und einen neuen Markt?“ Er ärgert sich auch über seine Landsleute. „Wir sollten stolz darauf sein, dass wir ein so multiethnisches Land sind. Aber nein, wir trennen alles und jeden nach ethnischen Hintergrund.“ Slobodan spricht fließend Deutsch. Während des Krieges lebte er in Frankfurt; nun studiert er Design in Sarajewo. „Wenn wir nur in die EU kämen... Dann wäre alles wieder besser- die ethnischen Grenzen würden verschwimmen. Doch wann wird das sein?“ Während ein Teil der jungen Menschen in Bosnien dem kommunistischen Jugoslawien hinterhertrauert, setzten viele auf eine Mitgliedschaft in der Europäische Union. In einem Punkt scheinen sie sich aber einig zu sein, sie wollen die ethnischen Gruppen wieder vereint sehen.
Doch in der Politik sieht es anders aus. Die jungen Menschen wie auch das zarte Pflänzchen Zivilgesellschaft sind machtlos. Die Parteien stehen schlichtweg für die Ethnien. Das Ethnische wird auch bei Wahlen betont. Man wählt als Serbe, Bosniake oder Kroate, nicht als bosnischer Staatsbürger. Zur letzten Wahl gingen nur 10% der Jugendlichen. Maja Begovic wählte auch nicht. „Wen hätte ich schon wählen sollen – einen dieser Nationalisten? Dann wähle ich lieber erst garnicht.“ Kein Wunder also, dass nationalistische Politiker an der Spitze des Landes stehen; sie wollen den Status Quo beibehalten.
Die Ethnien vereinen, das will auch die EU und die Internationalen Organisationen. Viele der Projekte und Programme der internationalen Gemeinschaft verlangen eine Beteiligung aller drei Volksgruppen. Diese gutgemeinten Bemühungen, Kroaten, Bosniaken und Serben zusammenzubringen und zu versöhnen, unterstreichen paradoxerweise genau die zu überwindenden ethnischen Hintergruende. Die ethnische Teilung werde weiterhin auch seitens der Internationalen Gemeinschaft reproduziert, wie es Dr. Azra Džajić, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajewo ausdrückt. Der „Versöhnungsterror aus dem Westen“ verdecke die wirklichen Probleme. Eine Versöhnung kann schliesslich nicht von aussen kommen.
„Jobs and justice“,–, sagt Boris Stjepanović, politischer Berater der Deutschen Botschaft in Sarajewo, das sei es was die Menschen und das Land bräuchten und was es bei Zeiten wieder vereinen könnte. Doch von Jobs und Rechtsstaatlichkeit sind die Bosnier weit entfernt. Von den 44% Arbeitslosen ist zwar die Hälfte auf dem Schwarzmarkt beschäftigt, doch genau dort beginnt das Manko der Rechtsdurchsetzung. Kaum einer zahlt Steuern.
Slobodan will nach seinem Studium ins Ausland, am liebsten zurück nach Deutschland. „Nein eigentlich bleib ich noch lieber hier“, sagt er lachend, „ich liebe doch mein Land.“ Danijel arbeitet als Übersetzer und wird in Bosnien bleiben. Er will keinen bosnischen Pass, als Jugoslawe. Maja fürchte zwar das Jobsuchen nach dem Ende ihres Studiums, aber sie ist zuversichtlich und will ihrem Land treu bleiben.
Die Integration in die Europäische Union ist bestimmt nicht der Weisheit letzter Schluss, dennoch bietet sie eine Perspektive. Die muslimischen Bosniaken sind bereit, in einem vornehmlich christlichen Europa aufzugehen; ihr Traum von einer zweiten „Dayton“-Konferenz unter internationaler Regie bleibt ihnen vorerst verwehrt. Der Traum der bosnischen Serben und Kroaten, Serbien bzw. Kroatien anzugehören, ist ad acta gelegt oder in die ferne Zukunft gerückt.
„In der Europäischen Union verschwinden Probleme nicht; aber Konflikte werden eingedämmt, die gefährliche Dynamik wird ihnen genommen.“ Die Worte von Botschafter Wnendt, Ashdowns Vertreter klingen einleuchtend. Es ist das Ziel einer EU-Mitgliedschaft, das – trotz einer derzeit sturen nationalistischen Führung – die drei Volksgruppen Bosnien-Herzegowinas zusammenhält und das den gemeinsamen politischen Nenner darstellt. Der Weg dorthin ist weit. Erst will Rechtsstaatlichkeit gelernt werden; weder osmanische Herrschaft, noch Sozialismus, Krieg und Nachkriegszeit gaben dazu eine Chance. Vielleicht ist es jedoch die Aussicht auf eine EU-Integration, die den Menschen Bosnien-Herzegowinas den Anstoss gibt, ihr Land und einen souveränen Staat aufzubauen.
10 Jahre nach Dayton sucht das Land immer noch nach seiner Zukunft. Dass es Hoffnung gibt, zeigt Sarejevo. Hier ist das multiethnische Bosnien von damals wieder zu erkennen. Die Kirchenglocken schlagen, der Muezzin ruft vom Minarett – willkommen in Europa! Bei diesen Worten huscht ein hoffnungsvolles Lächeln über Danijels Gesicht. „Ich will einfach Europäer sein!“
*** Ende ***