Eine Deutsche ohne Pass im Fernen Osten Russlands
Wladiwostok (n-ost) – Wenn Ursula Rossmeisel Tee anbietet, klingt ihr Deutsch ein bisschen wie aus einer anderen Zeit. In ihrem Zimmer, das Schlafraum, Wohnzimmer, Spiel- und Arbeitszimmer in einem ist, findet sich gerade Platz für ein Bett, einen kleinen Tisch und einen Schrank. Auf dem Bett türmen sich Kissen und Plüschtiere ihrer siebenjährigen Enkeltochter, mit der sich die Rentnerin den 14-Quadratmeter-Raum teilt.
Das Zimmer ist Teil einer russischen Gemeinschaftswohnung in der Hafenstadt Nachodka, an der Pazifikküste Russlands. Bahnstationen haben hier, 130 km von Wladiwostok, dem Zentrum des Fernen Ostens entfernt, keine Namen mehr, sondern nur noch Kilometerbezeichnungen. Ein bisschen ist hier die Welt zu Ende. Mehr als 10.000 Kilometer sind es bis Moskau, und bestimmt über 15 Flugstunden bis auf die kleine nordostdeutsche Insel Hiddensee, Ursula Rossmeisels letztem Wohnort in Deutschland.
Sie schenkt Tee ein. „Legt gut drauf“, fordert sie die deutschen Gäste zum Essen auf, für jeden gibt es ein kleines Handtüchlein. Geschäftig deckt sie den Tisch in einem Zimmer, in dem man sich kaum drehen kann. Die 75-Jährige ist Deutsche, doch ihr Heimatland hat sie 1946 zum letzten Mal gesehen. In Swinemünde, heute das polnische Świnoujście, wird sie 1931 geboren. Ihre Eltern sterben früh und die 14-Jährige lebt zum Kriegsende mit ihren drei Brüdern und der Großmutter im Dorf Vitte auf der Insel Hiddensee. Um das Familiengeld aufzubessern, geht sie über Land und bettelt. Als die Insel und das Dorf am Kriegsende von sowjetischen Truppen eingenommen werden, macht sich die 14-Jährige nach Stralsund auf, um dort als Trümmerfrau zu arbeiten.
Als die Sprache auf Deutschland kommt, füllen sich Ursula Rossmeisels Augen mit Tränen. „Auf der Lünebürger Heide ...“ stimmt sie leise an. Enkeltochter Nastja schaut die Fremden, deren Sprache sie nicht versteht, neugierig an. Ihre beiden Geschwister leben aus Platzmangel im Heim. Ursula Rossmeisel gießt Tee nach. Sie erinnert sich an die Tage nach dem Krieg, die ihr Leben verändern sollten: „Ich putzte Steine und bin mit dem verdienten Geld immer übers Wochenende nach Hause zu Großmutter und meinen Brüdern gefahren“, erzählt sie. Manchmal sucht sie nach dem passenden deutschen Wort. Irgendwann auf der Suche nach Arbeit wird sie in Rostock von einer russischen Patrouille aufgegriffen und zu einem Sammelpunkt gebracht. „In der sowjetischen Kommandantur musste ich zusammen mit anderen Mädels sauber machen, kochen und Wäsche waschen“.
1946 wird die inzwischen 16jährige gemeinsam mit Russinnen, Litauerinnen und anderen deutschen Mädchen festgehalten. „Wenn man es nicht so machte, wie die russischen Leute es wollten, wurde man geschlagen, gequält und mit Hunger bestraft“, erzählt sie vom Beginn ihres Martyriums und erinnert sich an ihren Peiniger, einen Mann mit dem seltsamen Namen „Alster“. „Er war streng und ständig wütend, grausam auch zu den russischen Soldaten.“
Eines Nachts wird die junge Deutsche zu ihm gebracht. „Warum lügst du?, fragte er mich, ich wusste damals gar nicht, was er wollte. Dann schlug er mich mit einem Hosenriemen, als er behauptete, ich wolle nur nicht nach Russland und würde deshalb vorgeben, ein deutsches Mädel zu sein“, erzählt sie.
„Du bist Maria Mironowna Makarowa aus Lettland, verstehst du?“, sagte er. Dies habe sich dann ständig wiederholt. Nicht mehr zum Aushalten sei das gewesen. „Irgendwann sagte ich, ich sei Maria Mironowna. Da lachte er und antwortete: `Wenn Du das nicht gelernt hättest, hätte ich dich totgeschlagen`“. Von da an lebte die Deutsche Ursula Rossmeisel unter russischem Namen. Die Tätowierung auf ihrem Arm, kyrillische Buchstaben, stammt aus dieser Zeit. „Wer das gemacht hat und wie das passiert ist, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.“
Ursula Rossmeisel bereitet Pelmeni zu, die russische Nationalspeise, gefüllte Nudeltaschen. Die Küche teilt sie sich mit den anderen Bewohnern der Gemeinschaftsunterkunft. Ganze Familien leben hier in einem Zimmer. Das Wasser wird aus der Heizungsanlage abgezapft, denn anderes gibt es gerade nicht. „Sehen Sie, so kann man doch nicht leben, es ist zu fürchterlich, die russischen Nachbarn sind jeden Tag betrunken, die Aserbaidschaner von gegenüber verkaufen selbstgebrannten Wein und Narkotika und in der Nacht gibt es keine Ruhe.“ Ihre Stimme klingt fest und klar, als sie sagt: „Ich will nach Deutschland, wo es bloß ein bisschen sauberer ist und wo ich ordentlich leben kann“, sagt sie. Eine ihrer Töchter und das Enkelchen, das bei ihr aufwächst, möchte sie mitnehmen. Beide sprechen kein Deutsch. Das nächste deutsche Konsulat ist in Nowosibirsk, Tausende Kilometer entfernt. Die letzte Post von einem Bruder in Stralsund gab es 1992.
Wenn Ursula Rossmeisel von ihrem Leben erzählt, reihen sich Ortswechsel und wiederholte Vertreibungen wie Selbstverständlichkeiten aneinander: Ende der 40er Jahre wird sie vom Sammellager in Deutschland ins weißrussische Grodno gebracht. Nächste Lebensstationen sind Riga, das heutige Leningrad, ein kleiner Ort in der Nähe von Archangelsk im russischen Norden und Karaganda in Kasachstan. Sie hat einige Männer, doch keinen heiratet sie, weil ihr die nötigen Dokumente fehlen.
Den größten Teil ihres Lebens verbringt die Norddeutsche in Tadschikistan, wo sie in einem Erholungsheim nahe der Hauptstadt Duschanbe als Gärtnerin arbeitet. Ihren deutschen Namen hat sie inzwischen wieder angenommen. Sie schwärmt noch heute: „Damals war das Leben schön, wir hatten eine große Wohnung, eine tolle Arbeit und uns ging es gut. Und dort gab es so viele Früchte und gutes Essen!“, erzählt sie und ihre Augen beginnen ein bisschen zu glänzen.
Sie holt einen bundesdeutschen Reisepass hervor, die Seiten lose, einige zerrissen, per Hand ausgestellt 1970, auf Ursula Rossmeisel. „Damals wollte ich zurück nach Deutschland. Doch meine sechs Kinder waren auf meinen damaligen tadschikischen Mann geschrieben und der stimmte der Ausreise seiner Kinder natürlich nicht zu.“
Mit den Bürgerkriegswirren 1992 in Tadschikistan sollte die Odyssee der Ursula Rossmeisel weitergehen. Als Deutsche ohne Pass im zentralasiatischen Land wurde es zu gefährlich. Mit ihren drei Enkeln, Kinder ihrer alkoholkranken Tochter, floh sie nach Moskau. „Von dort sind wir weiter nach Wladiwostok wo einer meiner Söhne schon wohnte“, erzählt sie und die Normalität, mit der sie den nächsten Ortswechsel über Tausende von Kilometern erzählt, lässt die größeren Brüche im Leben der Ursula Rossmeisel nur erahnen.
Die Rückkehr nach Deutschland ist Ursula Rossmeisels Lebenstraum. Auch, weil es inzwischen Probleme mit der russischen Pension gibt: „Ohne Dokumente wollen die russischen Behörden mir nichts mehr zahlen“, erzählt sie. 960 Rubel stehen ihr zu, dass sind weniger als 30 Euro pro Monat. Dazu kommen 1500 Rubel (42 Euro) Invalidenrente. Die Behörden verweigern ihr eine Anerkennung als Staatenlose, und ohne die gibt es keine Rente. Die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, hat man ihr auf der Behörde in Wladiwostok geraten. „Aber ich bin doch keine Russin!“, sagt sie empört, „und ich möchte endlich nach Deutschland!“
*** Ende ***
Cornelia Riedel