Der Marsch der Lebenden nach Auschwitz
Oswiecim (n-ost) - Zu einem „Marsch der Lebenden“ werden an diesem Donnerstag 18.000 Jugendliche aus über 50 Ländern in der südpolnischen Kleinstadt Oswiecim (Auschwitz) erwartet, darunter zum ersten Mal Jugendliche aus Deutschland. Sie erinnern an diesem Tag - dem jüdischen Holocaust-Gedenktag – der sechs Millionen von den Nationalsozialisten ermordeten Juden. Allein in Auschwitz-Birkenau, dem Ziel des Marschs der Lebenden, wurden über eine Million Juden und Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften getötet. Anlässlich des Gedenkjahrs, das an das Kriegsende vor 60 Jahren erinnert, ist die diesjährige Veranstaltung die größte in ihrer Geschichte. Der Gedenkmarsch wird von amerikanischen und israelischen Organisationen veranstaltet und hat das erste Mal im Jahr 1988 stattgefunden. Seither haben bereits 100.000 Jugendliche daran teilgenommen.
Angeführt wird der Marsch von Israels Premierminister Ariel Scharon, der vom polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski begleitet wird. Auch aus anderen Ländern werden Staatschefs und Regierungsvertreter erwartet. 48 europäische Bildungsminister, die sich bereits am Vortag in Krakau zu einem Treffen versammeln, wollen sich gemeinsam dem Marsch der Lebenden anschließen. Aus Deutschland wird eine Delegation von 50 Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen teilnehmen.
Die meisten der 18.000 Teilnehmer sind jedoch Jugendliche. Sie werden begeleitet von Überlebenden der Konzentrationslager. Aus Israel reisen über 1.500 Jugendliche nach Oswiecim, aus den USA werden 6000 Menschen erwartet. Die meisten Teilnehmer kommen aus Europa: 9.000 Jugendliche haben sich angemeldet, 2500 allein aus Polen. Erstmals werden in diesem Jahr auch 500 Jugendliche aus Deutschland dabei sein. Die größte deutsche Gruppe kommt vom Bundesjugendring und den deutschen Jugendverbänden.
Der Marsch der Lebenden führt von der Gedenkstätte Auschwitz zum gut drei Kilometer entfernten Ort des früheren Todeslagers in Birkenau. Die Teilnehmer werden diesen Weg über zwei Stunden lang schweigend zurücklegen. Vor den Ruinen der Gaskammern und Krematorien wird eine Feier mit einer Gedenkzeremonie und Gebeten stattfinden. Zu den Rednern gehört der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel. In Birkenau werden auch die Namen der Ermordeten verlesen und die Jugendlichen stellen kleine Holztäfelchen zur Erinnerung an die Opfer auf.
„Wir wollen, dass die Schüler sich erinnern, dass der Opfer gedacht wird“, erklärt Robert Szuchta, Lehrer am Warschauer Witkiewicz-Gymnasiums, den Grund für den Marsch der Lebenden. Szuchta ist selber Autor eines polnischen Schulbuchs „Holocaust – Verstehen, warum“ und Experte für Schulunterricht über den Nationalsozialismus in Polen. In diesem Jahr wird er selbst allerdings nicht teilnehmen – am selben Tag wird in Polen das Zentralabitur geschrieben. „Vielleicht ist das auch ganz gut so“, ergänzt Szuchta, „in diesem Jahr ist der Marsch viel zu politisch, es kommen viel zu viele Politiker“.
Kritische Stimmen sind auch unter den Einwohnern von Oswiecim zu hören: „Warum marschieren die Jugendlichen hier mit ihren israelischen Fahnen“ fragt eine Anwohnerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Sie habe nichts dagegen, dass Juden an die Holocaustopfer erinnern. „Aber muss auf dem Friedhof in Auschwitz eine Demonstration für den Staat Israel sein, mit Flaggen und Nationalhymnen? Hier sind doch Menschen aus so vielen Ländern gestorben.“ Tomek, gebürtiger Oswiecimer und Student in Krakau, ist anderer Meinung: „Jeder muss an diesem Ort das Recht haben, auf seine Weise zu gedenken. Die meisten Opfer waren schließlich Juden“. Er selber hat im vergangenen Jahr das erste Mal am Marsch der Lebenden teilgenommen. „Ich habe jüdische Freunde in den USA und in Israel, ich nehme teil, weil ich ihnen zeigen will, dass ich an ihrer Seite bin.“
Kritiker des Marsches der Lebenden gibt es auch in Israel. Der Anthropologe Jackie Feldman von der Ben Gurion-Universität in Beersheba kritisiert, dass die Jugendlichen in Polen mit einer Welt des Todes konfrontiert werden, ihnen nur der Verlust, die Verwundbarkeit und der Tod gezeigt werde. Mit polnischen Nichtjuden und dem heutigen Leben in Polen hätten die Teilnehmer kaum Kontakt, so Feldman. Dieser Welt des Todes in Polen werde durch den Marsch der Lebenden eine konstruierte und idealisierte Welt des Lebens in Israel gegenübergestellt: „Israel wird als das Land von Milch und Honig, sexy Soldaten, Sonne, Strand und reichlich Falafel wahrgenommen“, beschreibt Feldman den Gegensatz. In ihren Reisebussen, mit denen sie durch Polen reisen, würden sich die Jugendlichen eine Art Luftblase schaffen, die sie vor der fremden Umgebung schützen solle.
Verstärkt wird die vermeintliche Bedrohung von außen durch die Sicherheitsrichtlinien, die alle Teilnehmer des Marschs der Lebenden vom amerikanischen Veranstalter erhalten haben. Diese warnen vor antisemitischen Äußerungen, Betrunkenen, Hooligans, Taschendieben und Rowdys in Polen. Den Jugendlichen wird geraten, die eigene Gruppe nicht zu verlassen, jedem Kontakt mit Fremden solle mit Vorsicht und Misstrauen begegnet werden. Es wird davon abgeraten, vom Hotel aus Taxis zu bestellen und bestimmte, eng begrenzte Innenstadtbereiche in Krakau und anderen polnischen Städten zu verlassen.
Kasia, Studentin in Warschau, ist über die Sicherheitsrichtlinien und dieses Bild von ihrem Heimatland enttäuscht: „Die Ausländer bekommen den Eindruck, dass es in Polen nur Antisemiten gibt, die ihnen Böses wollen.“ Natürlich gebe es in Polen Judenfeindlichkeit, räumt sie ein, „aber es gibt hier nicht mehr und nicht weniger Antisemitismus als im übrigen Europa. Da sind wir Polen ganz europäisch - leider.“ Sie nehme am Marsch der Lebenden teil um zu zeigen, wie die Mehrheit in ihrem Land denkt: „Ich bin offen für die Menschen, die zu uns kommen. Ich werde auf sie zugehen und mit ihnen sprechen um ihnen ein realistisches Bild vom heutigen Polen zu geben.“ Die Juden aus aller Welt müssten hier in Polen keine Angst haben: „Im Unterschied zu Frankreich beispielsweise gibt es hier keine Anschläge auf Synagogen“, sagt Kasia, „und die Gebetshäuser müssen auch nicht, wie in Deutschland, rund um die Uhr durch Polizisten bewacht werden. Ich hoffe, dass die Teilnehmer des Marschs der Lebenden dies sehen.“
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