Bulgarien

Bulgarien will „zurück nach Europa“

Bulgarien biegt auf dem Weg nach Brüssel in die Zielgerade ein: Nach der Unterzeichnung des EU-Beitrittsvertrags in Luxemburg trennen das Land nur noch 20 Monate vom Beitritt zur Europäischen Union Anfang 2007. Schon nach dem klaren „Ja“ des Europäischen Parlaments am 13. April war in dem südosteuropäischen Land ein großes Aufatmen spürbar.

Ob das Land wie geplant Anfang 2007 ein neues Mitglied der europäischen Familie wird, ist aber noch nicht entschieden. Denn Bulgarien hat nicht alle Beitrittshürden überwunden: Die Reform des desolaten Justizwesens und der Kampf gegen Korruption stehen auf der Forderungsliste der EU ganz oben.

Auch im Minderheitenschutz gibt es nach wie vor Mängel. Noch im letzten „Fortschrittsreport“ der Kommission wurde vor allem die Diskriminierung der bulgarischen Roma kritisiert. Die Politik habe den Missständen lange Zeit tatenlos zugesehen, ist die ähnlich lautende Kritik vieler Menschenrechtsorganisationen, die im Lande aktiv sind. Erst seit kurzer Zeit gibt es auch staatliche Initiativen, die die Ausgrenzung der Roma beenden sollen. Für Margarita Ilieva vom Bulgarischen Helsinki Komitee etwa ist das Problem sehr ernst: „Rassismus ist enorm verbreitet innerhalb der Gesellschaft.“ Auch nach dem EU-Beitritt werde sich das nicht über Nacht ändern, sagt die Juristin. „Es braucht viele Jahre von Gerichtsurteilen und öffentlichen Aussagen von Aktivisten, Politikern oder Pädagogen, die sagen: Das ist nicht richtig, das ist falsch!“

Eine Anwendung der „Schutzklausel“, die den Beitritt um ein Jahr verzögern könnte, ist dennoch wenig wahrscheinlich. In Brüssel scheint man die Dinge pragmatisch zu sehen. Entspricht Bulgarien halbwegs den Kriterien, dann ist man gewillt, die zweite Welle der Osterweiterung über die Bühne die bringen.

Eindeutig positiv wird die wirtschaftliche Entwicklung des Landes bewertet: Wirtschaftsanalysten loben Bulgarien, denn die ökonomischen Makrodaten zeigen sehr gute Resultate. Für 2005 erwartet das bulgarische Finanzministerium ein Wirtschaftswachstum von mehr als fünf Prozent, ausländische Direktinvestitionen erreichten vergangenes Jahr ein Rekordhoch.

Allerdings spiegelt sich der ökonomische Aufschwung noch nicht in den Lebensverhältnissen der meisten Menschen wider. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Mit dem Mindestlohn, den die Regierung vor kurzem auf 150 Leva (umgerechnet 75 Euro) anhob, ist ein monatliches Auskommen kaum möglich. Weil seine Pension nicht ausreicht, betreibt beispielsweise der 63-jährige Sofioter Dimiter Iwanow im Vorgarten seines Hauses eine Altwarensammelstelle. In einem Verschlag aus Holz türmen sich Berge von Papier, Pappe und Metallteilen. Zu seinen Kunden gehören die Ärmsten der Armen, die in Müllcontainern auf die Suche nach verwertbaren Materialien gehen. Für ein Kilogramm Papier erhalten die Menschen hier acht Stotinki, etwa vier Euro-Cent. Kann jemand genug Papier sammeln, um davon einen Tag überleben zu können? Iwanow zuckt mit den Schultern. „Das hängt von seinem Glück ab.“

Als Simeon Sakskoburggotski, ein Nachfolger der alten bulgarischen Königsdynastie, im Jahr 2001 mit seiner „Nationalen Bewegung Simeon II.“ (NDSW) die Wahlen gewann, wurde er wegen seiner sozialen Versprechen gewählt. Da spürbare Veränderungen bis heute ausgeblieben sind, erwartet man nun vom EU-Beitritt den Durchbruch. Die hohen Erwartungen könnten leicht enttäuscht werden, befürchtet Lyudmila Dimowa. Die Journalistin der Bulgarischen Nachrichtenagentur kritisiert das Europabild, das in den Medien präsentiert wird: „Europa wird als magische Lösung aller Probleme interpretiert, gleichzeitig wird es als böse Macht dargestellt, die die bulgarische Industrie zerstören will und die knappen Märkte erobert.“ Konkrete Visionen über die Zukunft des Landes als EU-Mitglied habe man aber kaum.

Bulgariens „Rückkehr nach Europa“, wie das viele im Land etwas pathetisch nennen, war ein langer Weg. Im Jahr 1995 stellte das Land das Beitrittsersuchen. Die schwere Wirtschaftskrise im Winter 1996/97 verschob zunächst alle Ambitionen, Bulgarien fiel aus der ersten Erweiterungsrunde heraus. Erst im Dezember 1999 gab die EU grünes Licht für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, die nun fast fünf Jahre dauerten. Die Verhandlungen wurden weitgehend während der vierjährigen Regierungszeit der Regierungspartei NDSW abgeschlossen. Doch diese hat nun innenpolitische Hürden zu überwinden: Ende Juni wird ein neues Parlament gewählt. Dass Simeons Partei abermals einen Wahlsieg davonträgt, ist unwahrscheinlich. In Umfragen wird ein Absturz der NDSW auf dreizehn Prozent prognostiziert. Die Sozialisten mit ihrem Obmann Sergej Stanishev sind demgegenüber im Aufwind.

Welche Regierung Bulgarien ganz offiziell nach Brüssel führen wird, wird in den nächsten Monaten entschieden. Schon jetzt steht fest, dass die Aufnahme eines der ärmsten europäischen Staaten für die EU eine große Herausforderung wird.


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