Orangenrevolution erreicht Russland
Moskau (n-ost) – „Georgien, Ukraine, Kirgisien – nächste Station Baschkirien“, lautete der Titel einer Pressekonferenz der baschkirischen Opposition Anfang April in Moskau. Sie war nur das Vorspiel für die zwei Tage später anberaumte Protestaktion im Zentrum der russischen Hauptstadt: Mit einer Chartermaschine flog die Opposition rund 200 Aktivisten aus Baschkirien – einer autonomen Republik am Südfuß des Urals – ein, um auf dem Lubjanka-Platz vor dem Mahnmal gegen Totalitarismus zu demonstrieren. Die jüngste Demokratisierungswelle in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion hat damit erstmals russischen Boden erreicht.
„Baschkirien – ein politischer Gulag“, „Moskau – erhöre uns“ lauteten die Losungen. Sie seien hierher gekommen, um zu zeigen, dass die Opposition in Baschkirien organisiert und keineswegs extremistisch ist, erklärte Ramil Bignow, Vorsitzender des Koordinationsrats der vereinigten Opposition Baschkiriens. Vor allem aber ging es um die Übergabe eines von über 100.000 Bürgern unterschriebenen Briefes an Präsident Putin, in dem die Opposition den Rücktritt des Republikpräsidenten Murtasa Rachimow fordert.
Baschkirien ist mit vier Millionen Einwohnern eine der größten, der insgesamt 21 autonomen Republiken in der Russischen Föderation. 1,5 Millionen Einwohner sind Russen, 1,2 Millionen Baschkiren und etwa 1 Millionen Tataren. Die Mehrheit der Einwohner bekennt sich zum Islam.
Die Proteste haben mehrere Ursachen. Im Vordergrund steht das autoritäre Regime von Präsident Rachimow, der seit 1994 an der Macht ist. Der Präsident kontrolliert im rohstoffreichen Baschkirien die Aktienmehrheiten der wichtigsten Förderbetriebe, Raffinerien und petrochemischen Fabriken. Diese werden von Ural Rachimow, dem Sohn des Präsidenten, als Vorstandsvorsitzender geführt.
Lange Zeit hütete Murtasa Rachimow den Ölkomplex als unabhängige Finanzquelle wie seinen Augapfel und ließ keine Investitionen von außen zu. Als er bei den Wahlen 2003 jedoch an den Rand einer Niederlage geriet, arrangierte er sich mit dem Kreml und gab Teile der Ölindustrie aus der Hand. Rachimow gewann die Wahlen in der zweiten Runde, zu der sein härtester Gegner – ein Kreml-Kandidat – nicht mehr antrat.
Der Eindruck einer Klanwirtschaft verknüpft mit den harten Sozialreformen der Zentralregierung in Moskau sorgt für weiteren sozialen Konfliktstoff. Genauso wie das Ende März von Rachimow anberaumte Referendum, das ihm erlaubt, die Bürgermeister weiterhin zu ernennen, statt wie von der Opposition vorgeschlagen, in Volkswahlen zu ermitteln.
Auch ethnische Spannungen zwischen Russen, Baschkiren und Tataren spielen eine Rolle.
Über all dem schweben schliesslich die Ereignisse in der baschkirischen Stadt Blagoweschtschensk, in der die Polizei im letzten Dezember Massenverhaftungen vornahm, bei denen es zu schweren Misshandlungen gekommen sein soll. Die Vorfälle seien eine politische Zeitbombe, die in alle Richtungen missbraucht werden könne, meint der Analyst Nikolaj Petrow. Der Kreml hat bereits seinen Mann in die Region entsandt, der sich der Sache annehmen soll: Salawat Karimow, der sich als Staatsanwalt bereits den Oligarchen Chodorkowski, Beresowskij oder Gusinskij angenommen hatte.
„Das Volk hat die jetzigen Machthaber satt. Wir wollen, dass der Kreml Massnahmen trifft“, betont der baschkirische Oppositionsführer Bignow. Die Opposition – in der alle politischen Parteien außer der Putin-Partei „Einiges Russland“ sowie rund 30 zivilgesellschaftliche Organisationen vereint sind – ist entschlossen, die Demonstrationen weiter zu führen, bis die Behörden Verhandlungen aufnehmen. „Es gehen immer mehr auf die Strassen – im Februar waren es 8 000, im März 20 000“, sagt Ajrat Dilmuchametow, Führer der Baschkirischen Nationalbewegung. Ab 1. Mai will sie vor dem Verwaltungsgebäude in der Hauptstadt Ufa (1,1 Millionen Einwohner) nach ukrainischem Vorbild eine Zeltstadt errichten und ununterbrochen protestieren.
„Wir wollen, dass alles im gesetzlichen Rahmen abläuft, aber wenn es keine politische Lösung gibt, kann es auch diesen Rahmen verlassen“, meint Oppositionsführer Bignow. Und der mit ihm verbündete Dilmuchametow droht: „Wir haben bereits einen Plan, wie wir an die Macht gelangen.“
Obwohl Präsident Rachimow auch dem Kreml ein Dorn im Auge ist, wird dieser wohl kaum auf die Forderungen der Opposition eingehen. Ein schwacher Diktator, dem man vielleicht noch weitere Teile des Ölkomplexes abpressen kann, scheint Moskau als Verhandlungspartner lieber zu sein als die demokratische Opposition. Der Konflikt dürfte sich daher weiter zuspitzen.
Ende
Christian Weisflog