Russland

„Man wollte nur noch überleben“


Von Tino Künzel (e-mail: hi.tino@rambler.u, Tel.: 007 916 4220136)

Moskau (n-ost). Der Fall Königsbergs vor 60 Jahren war der Anfang vom Ende des Dritten Reichs. Am 9. April 1945 unterschrieb Stadtkommandant Otto Lasch die Kapitulationsurkunde, wofür ihn Hitler in Abwesenheit zum Tode verurteilen ließ. Damals Deutschlands östlichste Großstadt, war Königsberg bereits seit Januar eingeschlossen gewesen. Dennoch hatte die Nazi-Propaganda behauptet, eine Einnahme sei ausgeschlossen. Doch nach drei Tagen Dauerbeschuss durch die Rote Armee brach der Widerstand endgültig zusammen. Damit endeten fast 700 Jahre deutscher Stadtgeschichte. Königsberg wurde am 4. Juli 1946 in Kaliningrad umbenannt und ist heute eine russische Exklave zwischen Polen und Litauen. Zu den rund 5 000 Königsbergern, die noch leben, gehört Charlotte Gottschalk (79) aus Duisburg. 1948 hatte sie ihre Geburtsstadt verlassen müssen.

Frau Gottschalk, welche Erinnerungen haben Sie an die Tage rund um die Kapitulation am 9. April 1945?

Königsberg war zur „Festung“ erklärt worden und wurde wie wahnsinnig verteidigt, obwohl wir doch alle wussten, dass der Krieg verloren ist. Uns Frauen und Kinder hat man in den Zug gesetzt, die Männer durften nicht mit. Meinen Vater habe ich nie wiedergesehen.

Wohin sind Sie gefahren?

Nach Pillau, zum Ostseehafen. Dabei hatte meine Mutter panische Angst vorm Wasser. Sie konnte nicht schwimmen und wäre nie auf ein Schiff gestiegen. Aber unser Treck ist dann auch schon den Russen in die Hände gefallen.

Was haben Sie von denen erwartet?

Ach, wissen Sie, Königsberg war ja in seiner wechselvollen Vergangenheit schon mal von Franzosen besetzt gewesen und auch von den Russen. Deshalb haben wir nicht geglaubt, dass es uns unter ihnen schlecht gehen würde. Außerdem arbeitete meine Mutter vor der Flucht in einer Großküche, die russische Kriegsgefangene versorgte. Nette Kerle, ganz anders als die Fratzen, die man uns im Kino zeigte. Einer half auch in der Küche, der hat meine Mutter beschworen: Bleiben Sie doch hier, wir sind auch Menschen. Die beiden haben oft zusammen gesungen. Jedenfalls dachten wir uns, so schlimm können die Russen nicht sein.

Und dann?

Haben sie sich viele Frauen aus dem Zug geholt. Und wir waren entsetzt: Es ist also doch etwas dran, was man so hörte. Wir haben uns dann allein durchgeschlagen, versteckt, in Scheunen geschlafen. Meine Mutter brach sich den Arm, ich bekam die Ruhr. Uns sind auch russische Soldaten begegnet, die uns nichts taten, sondern stattdessen erstmal die Augen öffneten, wie die Deutschen zuvor bei ihnen gehaust hatten. Das konnte man sich ja in dem Ausmaß gar nicht vorstellen.

Wann sind Sie nach Königsberg zurückgekehrt?

Im Juni 1945. Mein Elternhaus existierte nicht mehr. Wir sind zunächst bei Nachbarn untergekommen. Dann mussten wir alle aus der Siedlung raus und in Notquartiere umziehen. Hatte man sich ein bisschen eingerichtet, wurde man wieder an die Luft gesetzt. Man hat uns alles weggenommen. Wir sind so tief gesunken, tiefer geht es nicht. Zwischen September 1945 und Februar 1946 sind meine Großeltern, meine Mutter und meine Tochter gestorben, an Hunger und Krankheiten, aus Erschöpfung. Ich war drauf und dran, die Nächste zu sein. Es wurde gerade ein Transport aufs Land zusammengestellt, da habe ich meinem Sohn genommen und im Kolchos angefangen.

Feldarbeit.

Ja, Kartoffeln pflanzen und ernten, auch Kühe hüten. Ich verstand nichts von alledem. Ich war ein verwöhntes Einzelkind gewesen, eine echte Städterin. Der Garten hatte mich nur interessiert, wenn es Erdbeeren gab. Jetzt musste ich eben vieles lernen. Sogar Reiten habe ich mir beibringen lassen.

Wie war Ihr Verhältnis zu den Sowjets?

Die hatten ja selber nichts. Es waren liebenswürdige Menschen dabei, die uns beschützt haben. Aber es wurden auch Leute totgeschlagen und Häuser in Brand gesteckt. Wir hatten schon Angst. Man wollte nur noch überleben. Allerdings habe ich mich immer gewehrt und mir nichts gefallen lassen. Letztlich waren wir junge Frauen, also wurde auch gelacht. Wir haben Russen veralbert. Einige haben mitgealbert.

Wie sind Sie dann nach Deutschland gelangt?

1947 begann die Ausweisung. Es waren ja überhaupt nur noch 25 000 Deutsche dort. Bis zum 1. April 1948 mussten wir das Land verlassen haben. Auf dem Bahnhof wurden wir in Viehwaggons verladen, es ging nach Sachsen. In Hamburg hat man dann meinen Mann ausfindig gemacht. Ich kam ihm nicht sehr gelegen. Er hatte sich schon anders orientiert. Trotzdem lebten wir dann noch viele Jahre zusammen, hatten vier weitere Kinder.

Wären Sie gern in Kaliningrad geblieben?

Nein. Aber als merkte, wie feindselig wir in Deutschland aufgenommen wurden, habe ich zu meinem Mann gesagt: Sobald wir zurückkönnen, fahren wir!

Und – sind Sie tatsächlich gefahren?

Achtmal war ich inzwischen dort, zu Besuch. Der erste fand 1991 statt. Bis Minsk mit dem Flugzeug, ich war vorher nie geflogen, aber das habe ich kaum registriert. Ich war so aufgeregt und habe viel geweint, vor Erlösung hauptsächlich. Wir sind über die Kurische Nehrung eingereist. Der erste Eindruck war furchtbar. Vieles sieht ja auch wirklich schlimm aus. Und dann stellte ich fest: Ich finde mich nicht mehr zurecht. Aber heute gehe ich durch die Stadt, als wäre ich dort zu Hause. Und ich bin ja auch dort zu Hause.

Wie ist der Empfang?

Man hat mich oft spontan umarmt. Ich bin da Mensch unter Menschen. Die Russen, mit denen ich mich treffe, bitten gern: Frau Charlotte, erzählen Sie, zeigen Sie! Ich kann mit denen offener reden als in Deutschland. Da wird man gleich in eine rechte Ecke gestellt und mit Unverständnis gestraft: Was wollen Sie denn dort?

Die meisten vom Krieg zerstörten Städte Mitteleuropas wurden historisch getreu wieder aufgebaut, darunter das polnische Gdansk, früher Danzig, ganz in der Nähe von Königsberg. Hat es Sie je mit Bitterkeit erfüllt, dass Ihre Heimat ausgerechnet unter sowjetische Hoheit fallen musste?

Das war eben eine Kriegsfolge. Ich hege da keine Gefühle und mache erst recht keinen Stunk. Es ist genug Unrecht passiert, auf beiden Seiten.

Frau Gottschalk, herzlichen Dank für das Gespräch.


*** Ende ***

Tino Künzel



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