Die Wunder von Krakau
Krakau (n-ost). Von der Normalität ist die südpolnische Stadt Krakau immer noch weit entfernt. Die Menschen in der Heimat des Papstes erleben eine nie dagewesene Solidarität. In Krakau hatte Karol Wojtyla die meiste Zeit seines Lebens verbracht: Hier studierte er Theologie und war 20 Jahre lang Bischof und Erzbischof, bevor er 1978 zum Papst ernannt wurde.
Am späten Montagabend kamen über 50.000 Fußballfans in das Krakauer Stadion, um eine Gedenkmesse abzuhalten. Dort geschah etwas bisher völlig unvorstellbares: Die Spieler und Fans der beiden großen Fußballvereine der Stadt, „Cracovia“ und „Wisla“, zelebrierten die Messe gemeinsam und gaben sich als Zeichen des Friedens die Hand. Normalerweise besteht zwischen beiden Clubs und ihren Anhängern eine Art Erbfeindschaft, es kommt häufig zu brutalen Schlägereien und Auseinandersetzungen. Der tote Johannes Paul II. wirkt Wunder.
Zur gleichen Zeit versammeln sich Schüler und Studenten am Invalidenplatz, um an einem Trauermarsch teilzunehmen. Er ist nirgendwo angekündigt und nicht zentral geplant, allein durch Mundpropaganda und vor allem durch SMS-Nachrichten organisieren die Jugendlichen diese Trauerkundgebung. Der Invalidenplatz füllt sich in wenigen Minuten, immer mehr junge Menschen strömen herbei, längst warten die meisten im benachbarten Park auf den Beginn, weil der Treffpunkt schon überfüllt ist.
Über 100.000 Schüler und Studenten marschieren letztlich durch Krakau, vielleicht waren es auch doppelt so viele – es gibt keinen Veranstalter, der eine Zahl schätzt. Die meisten tragen schwarze Kleidung und haben Kerzen entzündet. Die Jugendlichen ziehen schweigend die Straßen entlang, manche singen leise religiöse Lieder. Eigentlich sollte der Marsch zum Königsschloss Wawel führen, doch dort ist für so viele Menschen kein Platz. Die riesige städtische Wiese „Blonie“ ist das neue Ziel – hier hatten die großen Freiluftmessen während der Papstbesuche in Krakau stattgefunden, zuletzt im Jahr 2002.
Der Trauermarsch führt auch am Bischofspalast in der Franciszkanska-Straße vorbei. Seit Freitag letzter Woche hat sich dieser Ort zu einem neuen polnischen Wallfahrtziel entwickelt. Dort befindet sich das Fenster, das in diesen Tagen weltweit bekannt geworden ist. In jenem Zimmer hatte der Papst seine Residenz als Bischof von Krakau und hatte während seiner Visiten in Krakau auch immer wieder hier gewohnt. Vom Fenster aus hatte er mit den Krakauern gesprochen und gescherzt. Obwohl er längst in Rom als Oberhaupt der Kirche residierte, war hier immer noch sein Erstwohnsitz – Karol Wojtyla hatte sich nie beim Meldeamt abgemeldet. So blieb er bis zu seinem Tode Krakauer.
Im riesigen Halbkreis stehen Kerzen vor dem Bischofssitz, es werden von Tag zu Tag mehr. Familien, ganze Schulklassen und Studierende der nahen Universität legen Blumen nieder, an normalen Schulunterricht oder Vorlesungen ist an diesen Tagen ohnehin nicht zu denken. Viele schreiben Botschaften dazu – „Wir sind immer bei Dir“ oder „Du warst für uns wie ein Vater“. Straßenbahnen fahren schon seit Tagen nicht mehr die Straße entlang, täglich finden stattdessen mehrere Heilige Messen unter freiem Himmel mit Tausenden von Krakauern statt.
Die Kirchen der Altstadt sind rund um die Uhr geöffnet und sind überfüllt. Seit dem Tod des Pontifex haben allein im Sanktuarium in Lagewniki über 300.000 Menschen gebetet. Dieser Pilgerort mit einem modernen Sakralbau am Rande von Krakau war erst im Jahr 2002 bei seiner letzten Reise nach Polen von Johannes Paul II. eröffnet worden.
Die Tageszeitungen sind bereits am Vormittag ausverkauft, nur Sportzeitungen finden keine Leser. Alle Sportveranstaltungen sind in Polen ohnehin für die Zeit der Staatstrauer bis einschließlich Freitag abgesagt worden, genauso wie Theater- und Kinovorstellungen. Die Radiosender spielen nur ernste oder getragene Musikstücke. Es gibt halbstündlich Nachrichten – über nichts anderes als den Tod des Papstes und die Vorbereitungen der Beisetzung. Werbung wird nicht gesendet, Hörer können anrufen und über ihre Begegnungen mit dem Heiligen Vater berichten. Das gleiche beim Fernsehen und in den Zeitungen – andere Themen als der Tod von Johannes Paul II. und seine Beerdigung in dieser Woche kommen nicht vor.
In den Buchhandlungen finden alle Bücher vom oder über den Papst reißenden Absatz. Besonders gefragt sind Alben vom Krakauer Fotografen Adam Bujak, der allein zwei Millionen Bilder von Johannes Paul II. aufgenommen hat. Stundenlang stehen die Menschen in der Kurie oder der Stadtverwaltung an, um sich in die ausliegenden Kondolenzbücher einzutragen.
Noch bis zur Beerdigung von Karol Wojtyla am Freitag in Rom wird täglich für zehn Minuten die uralte Sigismund-Glocke auf dem Wawel-Schloss geläutet. 14 km weit ist ihr mächtiger Klang zu hören. Die 28 Glöckner schlagen die Glocke nur bei herausragenden historischen Ereignissen, wenn etwas Entscheidendes für das Land passiert ist, oder wenn Polen Gefahr droht.
Zumindest bis Freitag, dem Tag der Beisetzung von Johannes Paul II., werden die Krakauer nicht zu ihrem alltäglichen Leben zurückkehren. An diesem Tag werden die meisten die Beerdigungsfeierlichkeiten verfolgen können: Die Schüler haben frei, die allermeisten Geschäfte werden geschlossen bleiben, die Arbeitgeber wurden aufgefordert, ihren Mitarbeitern frei zu geben, damit sie im Fernsehen oder am Radio dabei sein können, wenn ihr Papst beigesetzt wird. Zehntausende Krakauer wollen sich auch auf den Weg nach Rom machen, um dort an der Beerdigungsmesse teilzunehmen. Flugtickets sind längst ausverkauft, die Sonderzüge der Polnischen Bahn werden ebenfalls überfüllt sein. Alle anderen Krakauer werden sich mit Bussen oder Autos auf den Weg nach Rom machen müssen, an den Grenzübergängen im Süden Polens sind besondere Abfertigungsspuren für die Teilnehmer der Beisetzungsfeier geplant.
Der Wahlspruch des Papstes lautete „Totus tuus“ – Ganz Dein. Die Krakauer geben sich in diesen außergewöhnlichen Tagen der Trauer ganz ihrem verstorbenen Heiligen Vater Johannes Paul II. hin.
*** Ende ***