„Was ohne den Papst wird, weiß ich nicht“
Krakau/Wadowice/Danzig/Zielona Góra (n-ost) - Am Samstag gegen 22 Uhr beginnen überall in Polen die Kirchenglocken zu läuten und Feuerwehrsirenen gellen wie ein großer Schmerzensschrei über das Land. Polen trauert um Papst Johannes Paul II. Nur Minuten dauert es, bis sich in Krakau, Danzig und andernorts die leer gefegten Straßen füllen. Viele hatten vor den Fernseh- und Radiogeräten die pausenlosen Sondersendungen zum Gesundheitszustand des Papstes verfolgt, nun drängt es die Menschen hinaus in die Kirchen. Viele lassen die Köpfe hängen, haben Tränen in den Augen.
Als in Krakau auf dem Wawel, dem früheren Sitz der polnischen Könige, die schwere Zygmunt-Glocke zu läuten beginnt, halten viele Menschen inne und blicken hinauf zum erleuchteten Glockenturm. Die Zygmunt-Glocke ist die älteste und berühmteste Glocke Polens. Sie wird nur in Ausnahmefällen geläutet, wenn etwas bedeutsames für das Land geschehen ist, oder wenn Polen in Gefahr ist. Nie hat man die Glocke so lange läuten hören, wie in dieser Nacht. „Was ohne den Papst wird, weiß ich nicht. Es wird keinen zweiten solchen Menschen geben“, sagt Izabela Klimek stellvertretend für viele.
In Krakau wurde Karol Wojtyła zum Kardinal berufen. Seit Freitag hängt ein riesiges Schwarz-Weiß-Bildnis des Pontifex weithin sichtbar am Rathausturm. Keine Stadt hat er während seiner 104 Auslandsreisen als Papst öfter besucht. Zuletzt war er im Jahre 2002 hier. Gegen 22.30 Uhr stehen etwa 20.000 Menschen vor seinem früheren Bischofssitz. Der jetzige Kardinal Franciszek Macharski, der sofort eine Messe liest, hat sichtlich Mühe, die zahllosen Menschen aufzurichten: „Wir werden immer die Generation bleiben, die den Papst geliebt hat, die ihn liebt und die ihn lieben wird.“ Einzelne Fälle von Ohnmacht werden bekannt. Bei vielen Gläubigen ist die Erschöpfung groß. Seit Freitag haben sie oft stundenlang gebetet.
Im nahen Wadowice, der Geburtsstadt des Papstes, ist die Basilika der Pfarrkirche der Allerheiligsten Jungfrau Maria von Scheinwerfern hell erleuchtet. Hier wurde Karol Wojtyła am 20. Juni 1920 getauft, hier empfing er seine Erstkommunion. „Er war ein Vater für uns Wadowicer und für uns Polen“, erzählt Ordensschwester Magdalena, die das kleine Museum im Geburtshaus des Papstes leitet. Wadowice wird zu einem Wallfahrtsort für die polnischen Katholiken werden, ist sie überzeugt. So wie Tschenstochau, wo ganz Polen die schwarze Madonna anbetet.
„Er sagte immer Kuba zu mir“, erinnert sich Priester Jakub Gil, seit sieben Jahren Probst der Wadowicer Gemeinde an den Papst. Mehrmals habe ihn der Heilige Vater im Vatikan empfangen. Nur vor drei Wochen, als er zuletzt in Rom war, habe man ihn nicht mehr zum Pontifex vorgelassen. „Seitdem wusste ich, dass er an das Ende kommt.“
Kurz vor Mitternacht ordnet Staatspräsident Aleksander Kwasniewski das Herunterlassen der Fahnen auf Halbmast und Nationaltrauer bis zur Beerdigung des Papstes an. Das öffentliche Leben im Lande kommt zum Erliegen. Parteitage werden abgesagt. Im Internet haben die großen Tageszeitungen Kondolenz-Foren eingerichtet, in die sich binnen Minuten Hunderte eintragen.
Noch am späten Abend schließen viele Kinos, der polnische Musiksender Viva beendet bis auf Widerruf sein Programm. Gerade auch unter jungen Leuten ist die Trauer groß. Am späten Samstagabend strömen sie aus den Diskotheken und Cafés in die Kirchen, verabreden sich per SMS zum Beten des Rosenkranzes. „Der Papst gehörte zu den wenigen, die das positive Bild vom guten und ehrlichen Polen in die Welt getragen haben“, meint der 24-jährige Jurastudent Przemysław Kobus.
Im schlesischen Grünberg (Zielona Góra) stellen die Leute Kerzen in ihre Fenster. Es flackert vieltausendfach durch die Nacht. In einer Kirchenbank in der Heiliggeistkirche liegt die Stadtpräsidentin von Grünberg, Bożena Ronowicz, zusammen mit anderen Menschen auf den Knien und weint. Noch nie, sagen ältere Polen, habe das Land eine so tiefe Traurigkeit erfasst. „Für uns Polen war er wie ein Familienmitglied, wie ein Vater“, sagt Leokadia Stachowska. „Den Schmerz kann man nicht beschreiben, so groß ist er.“ Violetta Talarczyk, die wie viele Polen zum Papst nach Rom gepilgert ist und zu Hause Bilder dieser Begegnung an der Wand hängen hat, nennt ihn den „wichtigsten Menschen. Immer wenn es mir schlecht geht, denke ich an diese Begegnung und es gibt mir Kraft, weiterzuleben.“
Die polnische Bevölkerung ist zu 95 Prozent katholisch. Andersgläubige haben es da nicht leicht. Doch in einer Moschee im Danziger Stadtteil Oliwa herrscht ebenfalls große Trauer. „Die polnischen Muslime haben den Papst von Anfang an begleitet, sowohl in Freude als auch in Trauer, als er gesund war und auch während seiner Krankheit“, sagt Gemeindevorsteherin Maria Tamara Szymanowicz.
In Danzig tritt besonders die politische Rolle des Papstes für den Kampf um Freiheit in den Mittelpunkt. Das Tor der Danziger Werft, Gründungsort der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc, ist mit Blumen, Kerzen und Papstbildern geschmückt. „Ohne ihn gäbe es kein Ende des Kommunismus oder zumindest erst sehr viel später und das Ende wäre blutig gewesen“, lässt Lech Wałęsa erklären. Vor der Kirche der heiligen Brigitte, Heimatkirche der „Solidarnosc“, wurde bereits vor Jahren ein Papstdenkmal aufgestellt. In der Kirche halten sie Nachtwache und klammern sich dabei an den Satz, mit dem Johannes Paul II. vor über 25 Jahren sein Amt begann und mit dem er so vielen Polen Jahrzehnte lang Kraft und Mut gab: „Fürchtet Euch nicht“.
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