Polen

Trauer in Krakau und Wadowice

Krakau/Wadowice (n-ost). Kurz nach 22 Uhr am Samstag ist in ganz Krakau die Sigismund-Glocke auf dem Königsschloss Wawel zu hören. Es ist die größte Glocke der Stadt und zugleich ein nationales Heiligtum. Sie wird nur bei besonders wichtigen historischen Anlässen geläutet – zuletzt am Tag des Beitritts Polens zur Europäischen Union im vergangenen Jahr. Am Samstag haben viele Krakauer durch den lauten, schweren Schlag der Sigismund-Glocke vom Tod ihres Heiligen Vaters, Johannes Paul II. erfahren.

Vom Läuten der Glocke gerufen, strömen die Menschen aus allen Richtungen auf die Straßen der Altstadt. Niemand will heute abend allein sein. Für viele gibt es nur ein Ziel: Der kleine Platz vor dem Fenster des Bischofspalasts in der Franciszkanska-Straße. 20 Jahre lang war dies der Sitz von Karol Wojtyla als Bischof und Metropolit von Krakau – bis er am 16. Oktober 1978 als Johannes Paul II. zum Oberhaupt der Katholischen Kirche in Rom gewählt wurde. Doch die Krakauer erinnern sich vor allem dieses eine Fenster, das sich direkt über der Toreinfahrt befindet. In diesem Zimmer wohnte der Papst während aller Pilgerreisen nach Krakau.

Aus diesem Fenster sprach er an den Abenden mit den Krakauern, erzählte Witze und Anekdoten, hörte ihnen zu. Es war ein Dialog mit den Menschen, mit „seinen Krakauern“. Durch diese Gespräche sind viele Menschen auf dem Platz mit dem Heiligen Vater verbunden.

Nun ist das berühmte Fenster geschlossen, ein Kreuz, geschmückt mit einer
Priesterschärpe steht darin. Mehrere tausend Menschen knien sich ehrfürchtig auf die Straße. Minutenlang verharren sie so. Unter den Gläubigen ist der Krakauer Kardinal Franciszek Macharski, auch er kniet vor dem Fenster im Bischofspalast, in dem er heute selber residiert.

Gegen 22.30 Uhr sind schätzungsweise 20.000 Menschen zusammengekommen. In
der benachbarten Franziskaner-Kirche hält Bischof Macharski eine Heilige
Messe, die auf den Platz übertragen wird. Er spricht seine Predigt langsam, man hört in seiner Stimme, wie sehr ihn der Tod des Pontifex persönlich bewegt. Die Krakauer hören still zu, viele Menschen weinen leise. Sie sprechen die Rosenkranz-Gebete und knien andächtig während der Liturgie. Viele halten Kerzen in den Händen, stellen sie in die Fenster des Palastes, auf Mauern, Blumenbeete, auf die Gleise der Straßenbahn oder einfach auf die Straße.

Vor dem Tor des Bischofssitzes legen sie Frühlingsblumen nieder, Tulpen,
Gerbera und Osterglocken. Jemand legt einen Zettel dazu: „Wir fürchten uns
nicht, wir sind mit Dir“. Ein Schal des Fußballvereins „Cracovia“ hängt am
Fenstergitter – der Papst war Fan dieses Krakauer Clubs – erst vor einigen
Wochen hatte er die Mannschaft zu einer Audienz im Vatikan empfangen. Ein
Mitarbeiter der Bischofsverwaltung steigt auf eine Leiter und hängt zwei
Fahnen in den gelb-weißen Farben des Vatikan mit Trauerflor neben dem Tor
auf. Nach der Messe können die Krakauer noch die heilige Kommunion
empfangen, die in der benachbarten Franziskaner-Kirche ausgegeben wird.
Manche stehen über eine Stunde in einer Schlange, um sie entgegenzunehmen.

Der zweite große Schauplatz der Papsttrauer in Polen ist das unweit von
Krakau gelegene Städtchen Wadowice. Bereits am Freitag reisten Fernsehteams und Reporter aus ganz Europa dorthin. Hier in der Pfarrkirche der Allerheiligsten Jungfrau Maria ist Karol Jozef Wojtyla, genannt „Lolek“, am 20. Juni 1920 getauft worden und auch seine Erstkommunion hatte er hier empfangen.

„Er war ein Vater für uns als Wadowicer und für uns als Polen“ erzählt
Ordensschwester Magdalena. Seit 30 Jahren lebt sie hier. Sie hat die Wahl
von Karol Wojtyla zum Papst erlebt und konnte ihn bei seinen drei
Besuchen in den Jahren 1979, 1991 und 1999 in seiner Heimatstadt begrüßen.
Nun hat sie auch seinen Tod hier erfahren müssen. Schwester Magdalena leitet auch das kleine Museum im Geburtshaus von Karol Wojtyla, direkt hinter der Kirche. Dort bewohnt sie auch ein Zimmer. Schon seit vielen Jahren drängen sich dort die Touristen und Pilger, um die Wohnung im ersten Stock in der ul. Koscielna (Kirchenstraße) zu sehen. Jetzt, nach dem Tod des Papstes, wird es, davon ist Ordensschwester Magdalena überzeugt, zu einem heiligen Ort, zu einem Sanktuarium des Pontifex. Wadowice wird zu einem weiteren Wallfahrtsort für die polnischen Katholiken werden.

Rentnerin Irena Franczek hat in den vergangenen Tagen an mehreren Messen
teilgenommen: „Er war unser geliebter Heiliger Vater, besonders uns Polen
war er wichtig, er ist doch unser Landsmann“, erzählt sie mit trauriger
Stimme. „Er hat viel Gutes für uns und die ganze Welt getan“. Davon sind
auch Izabela Klimek und Karolina Feldy, beide 16 Jahre alt und Schülerinnen in Wadowice überzeugt: Für Polen sei er eine Autorität und eine Gabe zugleich gewesen, so Karolina, eine Person die alle Religionen versöhnt habe. Am letzten Schultag vor dem Tod des Papstes hatten die beiden in der Schule über nichts anderes als den Gesundheitszustand des Pontifex gesprochen. Mit ihrer ganzen Klasse hatten sie spontan zwei Stunden lang die Messe in der Kirche besucht und den Rosenkranz gebetet. „Der Papst hat in der Welt gezeigt, dass die Polen nicht nur schlechte Menschen sind, die klauen und trinken“, sagt Izabela auf die Frage, welche Bedeutung Johannes Paul II. für die Polen hatte. „Was ohne den Papst wird, weiss ich nicht. Es wird keinen zweiten solchen Menschen geben“.

Auch für Priester Jakub Gil, seit sieben Jahren Probst der Wadowicer
Gemeinde, war der Pontifex ein außergewöhnlicher Mensch. „Sehr viele
Menschen waren ihm hier in der Stadt sehr nah, er wurde von vielen geliebt“. Mehrmals im Jahr habe er ihn im Vatikan besucht, hatte eine ungewöhnliche Nähe zum Heiligen Vater. Beim gemeinsamen Essen oder Gebet hatte er immer wissen wollen, was in Wadowice passiere, wie es dieser oder jener Familie gehe. „Er hatte ein Computergedächtnis“. Kannte er einmal ein Mitglied der Wadowicer Besuchergruppen nicht, so habe er immer „seinen“ Probst gefragt – „er sagte immer ‚Kuba’ zu mir“, berichtet Priester Jakub Gil von seinen Treffen mit Johannes Paul II. Immer hatte ihn der Heilige Vater im Vatikan empfangen. Nur vor drei Wochen, als er mit einer Pilgergruppe aus Wadowice vor dem Gemelli-Krankenhaus in Rom war, wurde er nicht mehr in das Zimmer des Pontifex vorgelassen. „Seitdem wusste ich, dass er an das Ende kommt.“

Später in der Nacht sind in Wadowice und Krakau die Kirchen immer noch voll, die Straßen hingegen sind still und menschenleer. Wer nicht an einer Messe teilnimmt oder leise für sich betet, geht nach Hause. Um 2.00 Uhr nachts sendet ein Fernsehsender seinen Korrespondentenbericht für das amerikanische Nachmittagsprogramm vom fast leeren Krakauer Marktplatz. Normalerweise tummeln sich auf dem Rynek an einem Samstagabend Massen von Kneipen- und Diskothekenbesuchern.

Bis zur Beerdigung des Papstes herrscht Staatstrauer. Alle Flaggen wehen auf Halbmast. In Krakau werden die Fahnen der Stadt und die gelb-weißen
Vatikanfarben mit Trauerflor ergänzt. Das traditionelle Trompeterlied
„Hejna“ vom Turm der Marienkirche – auch ein kleines Heiligtum der
Krakauer – wird nicht gespielt, stattdessen blasen die Trompeter
Trauermelodien.

Johannes Paul II. war der erste slawische Papst und der erst Pontifex nach
400 Jahren, der nicht aus Italien stammte. Einen zweiten Papst aus der
polnischen Königsstadt werden die Krakauer so bald nicht wieder nach Rom
entsenden. Deshalb nennen sie noch am Abend, in Anlehnung an einen der
wichtigsten polnischen Könige, ihren verstorbenen Pontifex bereits Jan
Pawel Wielki – Johannes Paul der Große.


*** Ende ***



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