Die Richtung des Lebens erkennen

Vladimir Zarev trippelt mit gemessenen Schritten über den Slaweijkow-Platz, der größten Freiluftbuchhandlung der bulgarischen Hauptstadt. Selbst von den Händlern hier kennen ihn nur wenige – und das, obwohl Zarev bereits über ein Dutzend Romane geschrieben hat. Von dem einen oder anderen Stand nimmt er ein Buch, blättert. Es ist so kalt, dass die Seiten leise knistern. „Wirklich gute Literatur sucht man hier meist vergebens. Esoterik, Management-Ratgeber, Kitsch“, kommentiert er. Das sei kein Wunder, denn in den 20 Jahren seit der politischen Wende hätten die Bulgaren aufgehört zu lesen. Die primitive und geistlose Anbetung alles Materiellen sei zum Hauptlebensinhalt der Gesellschaft geworden und geistige Werte… - Vladimir Zarev winkt ab.
Der kleine Mann mit dem weißen Bart ist einer der großen Erzähler in der europäischen Literatur. In Osteuropa gilt er als einer der wichtigsten Romanciers. In Westeuropa, in Deutschland etwa, wird er erst langsam entdeckt. Sein 2007 bei Kiepenheuer erschienener Roman „Verfall“ gilt als der osteuropäische Wende-Roman. Anders als in Uwe Tellkamps „Turm“, ist die Wende bei Zarev ein packender Thriller, ein pralles Sittengemälde der postsozialistischen Ära. Kein anderes Werk, so urteilten die Kritiker, habe den Lesern die Mafiotisierung osteuropäischer Gesellschaften nach 1989 derart plastisch zu erklären vermocht. „Der Räuber, der Dieb, der Vergewaltiger, das sind heute die treibenden Figuren in unserer Gesellschaft. Geduldet von den alten Kadern, die heute noch jene Stellen besetzen, die sie auch früher hatten. Ich habe in dem Buch einen Ausdruck geprägt, der inzwischen zu einem geflügelten Wort in Bulgarien geworden ist: In jedem Staat gibt es eine Mafia, unser Staat aber ist die Mafia!“
Kultautor des geistigen „undergrounds“
Vladimir Zarev wagt in seinen Romanen etwas, was in der Literatur als anachronistisch gilt – das lebenspralle Abbild ganzer Epochen, bevölkert von skurrilem, ja an Gogol erinnernden Personal. Moraldiskurse, von der Mehrheit zeitgenössischer Autoren angewidert abgelehnt, sind immanenter Bestandteil von Zarevs literarischem Deuvre. Kaum ein anderes Werk macht dies so deutlich wie sein Roman „Bieteto“, was übersetzt soviel wie „Genesis“ bedeutet. Er machte ihn bereits in den 80er Jahren zum Kultautor des geistigen „undergrounds“ in Bulgarien und Osteuropa.
In dem bei Deuticke unter dem Titel „Familienbrand“ erschienenen Roman erzählt Zarev die Geschichte der Familie Weltschev, deren Namen in deutscher Übersetzung nicht umsonst Wolf heißt. Der alte Assen, der in der eindrucksvollen Anfangsszene auf dem Sterbebett liegt, nimmt ein schreckliches Geheimnis mit ins Grab. Dieses Geheimnis, befürchtet seine Witwe nicht zu Unrecht, wird sich als Fluch über die ganze Sippe legen. „Mein Roman spielt im ersten Teil in der an der Donau gelegenen Stadt Widin, im zweiten dann in Sofia. Zu dem Zeitpunkt, an dem meine Handlung beginnt, dringt plötzlich die äußere Welt in ein Provinzstädtchen ein, dass sich selbst stets genug war. Es ging mir um jenen magischen Moment, der am Anfang einer Bewusstseinsänderung steht. Die Hauptfigur spürt, dass nichts mehr so ist wie vorher. Die Politik beginnt Einfluss zu nehmen und in den Lebensläufen meiner Helden beginnt sich plötzlich das Weltgeschehen wie in einem Brennglas zu spiegeln.“
Da ist vom Aufkommen des Geldes als gesellschaftliche Macht die Rede – Petrunizas zweiter Sohn Panto wird unverhofft Bankier. Da ist die Verweltlichung – Petrunizas ältester Sohn Jordan will etwas bauen, eine Kirche, aber es wird keine Bußestätte für Sünder, sondern eine Fuhrmanns-Raststätte, eine Mußestätte für Sünden. Da ist die Entwicklung der Produktion – der jüngste Sohn Ilija wird in einem genialen Handstreich Fabrikant und „Ausbeuter“. Und natürlich ist da der Eintritt des Ideologischen: Christo, der dritte Sohn, begeistert sich für den Sozialismus und wird im von Armut, Krankheiten und Kriegen heftig gebeutelten Widin zum Helden wider Willen, dessen bloße Existenz in den Menschen die Hoffnung auf bessere Zeiten wach erhält. Ihm und seinen Gesinnungsgenossen steht ein zaristisches Regime gegenüber, das schon vor den Balkankriegen von 1912 und 1913, vor dem Ersten Weltkrieg und vor den Machtkämpfen zwischen Bauernpartei und skrupellosen Konservativen autoritär regiert und jede Protestregung ihrer Untertanen brutal verfolgt. Die Schilderungen dessen, was provinzielle Polizeibeamte in den Folterkellern des Bezirksamtes Widin mit solchen unbequemen Gesellen veranstalten, gehört zu den beklemmenden Beispielen der erzählerischen Kraft Vladimir Zarevs, analysiert Zarevs Übersetzer Thomas Frahm.
„Ohne moralische Leuchttürme ist Europa orientierungslos“
In großem Salto Vitale verknüpft Zarev die Geschichte der Weltschews mit den politischen Kämpfen zwischen Sozialismus und Faschismus im 20. Jahrhundert und setzt seine Leser der gleichen Gefahr aus wie seine Figuren. Wer zu lesen beginnt, wird hineingerissen in den Mahlstrom von Geschichte und Geschichten. Warum aber konnte Zarev mit dieser als Familienbiografie daher kommende Geschichte zum Kultautor werden? Weil „Familienbrand“ nur vordergründig ein historischer Roman ist. Damals wie heute lässt das Buch sich als Aufstand des Individuums lesen, das aufbegehrt gegen jede Form geistiger Manipulation. Ein Thema, das heute genauso aktuell ist, wie in den 80er Jahren. Jede seiner Figuren nutzt Zarev, um die Frage zu stellen, welchen Einfluss der Einzelne auf die Wertvorstellungen seiner Zeit nehmen kann. „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Richtung, die unser Leben nimmt, nur erkannt werden kann, wenn man sich mit den dramatischen Ereignissen der Vergangenheit befasst. Ohne sie zu kennen, wird niemand verstehen, was im heutigen Bulgarien, im heutigen Osteuropa abgeht. Moralische Werte sind wie ein Leuchtturm, der uns den Weg durch schwere Gewässer zeigt. Und genau dieser Leuchtturm ist meinem Erachten nach nicht nur in weiten Teilen Osteuropas völlig abhanden gekommen.“
„Familienbrand“ ist nur der erste Teil einer Trilogie, in der Zarev, die Lebensläufe seiner Protagonisten und ihrer Nachfahren bis an den Beginn des 21. Jahrhunderts fortschreibt. Den deutschen Verlagen wäre der Mut zu wünschen, den Lesern möglichst bald den zweiten und dritten Band dieses bedeutenden Erzählers zugänglich zu machen.