Die Wunder der Wirklichkeit
„Unerhört sind die Wunder der Wirklichkeit“ heißt es in einer der Erzählungen Dimitré Dinevs. Von nichts Geringerem als dieser unbekannten, wundersamen Wirklichkeit handelt sein neuer Band „Ein Licht über dem Kopf“. Die Geschichten des aus Bulgarien stammenden Autors, der mit dem Roman „Engelszungen“ bekannt wurde, handeln von Menschen, die in einer unruhigen Zeit ihr Glück versuchen, ins Unbekannte aufbrechen und Neuland betreten.
„Als sie aussteigen durfte, war sie in Wien“, schreibt er in der Geschichte „Die neuen Schuhe“. Ein Mädchen aus einer türkisch-bulgarischen Familie flieht von zu Hause, weil ihr Vater sie zu einer Heirat zwingen will. Versteckt in einem LKW, ohne Tageslicht zu sehen, kommt sie in die österreichische Hauptstadt. „Alle ihre Feuerzeuge waren leer, aber dafür konnte niemand so schön wie sie von der Sonne erzählen.“ Einige der Erzählungen spielen in Wien – im Wien der Polizeistationen, Baustellen und Bahnhöfe freilich. Und in einer Gegenwart, die selten unbeschwert, aber dennoch voller Überraschungen ist.
Der in Wien lebende Dinev kam selbst auf abenteuerliche Weise nach Österreich: im Jahr 1990, illegal über die tschechische Grenze. Damals war er 22 Jahre alt. Nach einem Aufenthalt im Flüchtlingslager schlug er sich mehrere Jahre lang mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten durch. Nebenbei fand er noch Zeit zum Schreiben.
„Zwölf Jahre lang liefen meine Tage auf ein und dieselbe Weise ab“, erinnert er sich. „Entweder arbeitete ich acht bis zehn Stunden pro Tag, oder ich suchte Arbeit. Danach kam ich nach Hause, legte mich schlafen, stand um drei oder vier Uhr auf, schrieb bis Sonnenaufgang und ging wieder zur Arbeit.“
Im Jahr 2001 erscheint sein erster Erzählband „Die Inschrift“ im österreichischen Kleinverlag „edition exil“. Der Wiener Deuticke Verlag wird auf den jungen Autor aufmerksam und bringt zwei Jahre später seinen Roman „Engelszungen“ heraus – ein großer Erfolg bei Publikum und Kritik. Der Roman beginnt am Zentralfriedhof, jener Ort, der als Herzstück der wienerischen Morbidität gilt. Dort treffen sich zwei bulgarische Immigranten, Svetljo und Iskren, deren Schicksale und Familiengeschichten Dinev auf knapp 600 Seiten zu einem kunstvollen Erzählteppich verwebt. Mitte Februar erhielt Dinev für sein Werk den Chamisso-Förderpreis der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart.
In Wien lebt Dinev in der Nähe des Brunnenmarktes, einem Ort wo man „mehr Sprachen hören kann als auf der Universität unterrichtet werden“. Auf die Frage, ob er eher in Bulgarien oder in Österreich zu Hause sei, hat Dinev eine eindeutige Antwort: „Ich fühle mich dort heimisch, wo meine Freunde sind, wo ich liebe und geliebt werde – also sowohl in diesem Land als auch in jenem.“ Wenn ihm Menschen schreiben, dass seine Literatur ihnen einen anderen Blick auf die Realität ermöglicht hat, so freut ihn das mehr als alle positiven Kritiken. „Vielleicht hält diese Veränderung nicht lange, aber nach solchen Briefen sage ich mir: Ich habe es geschafft, ihr Herz zu berühren, sie haben das Buch eines Ausländers in ihre Häuser und Betten genommen. Was kann ich mehr wollen?“ Ganz sicher wird ihm dies auch mit „Ein Licht über dem Kopf“ wieder gelingen.
Dimitré Dinev: Ein Licht über dem Kopf. Erzählungen. Verlag Deuticke, Wien 2005, 186 Seiten, Euro 17,90, ISBN 3-552-06000-6