12.000 Kilometer durch Eis und Schnee
Moskau (n-ost). Es ist kein Spaß, in einem Auto zu sitzen, das gerade auf gefrorenem Gewässer einbricht. Aber die Chancen, heil da herauszukommen, sind gar nicht so schlecht: „Nur keine Panik“, schärft Juri Owtschinnikow den Teilnehmern der ersten „Expedition Trophy“ quer durchs winterliche Russland ein. „Glauben Sie mir, Sie haben mehr als genug Zeit, aus Ihrem Fahrzeug zu klettern und trockenen Fußes zuzuschauen, wie es untergeht.“
Mit derart guten Worten vorbereitet gehen sie an den Start einer beispiellosen Rallye: 34 Teams, die 12.000 Kilometer von Murmansk im Nordwesten Russlands nach Wladiwostok im äußersten Südosten zurücklegen wollen. Mit dabei ist im Moskauer Team „Lukashev.ru“ der Russlanddeutsche Eugen Rudy, Kraftfahrer aus dem schwäbischen Ludwigsburg bei Stuttgart. Am 8. März will er mit seinen Kameraden das Ziel erreicht haben. Dann wird man wissen, ob unterwegs Jeeps versunken sind.
Die Tour lebt von ihren Extremen: Zwei der vier Sprintprüfungen finden auf dem Eis des Onega- und des Baikal-Sees statt, und die sieben Etappen führen nicht nur durch 14 der bedeutendsten russischen Städte, sondern auch und vor allem über Nebenstraßen, Dörfer, Stock und Stein. „Eiskommissar“ Owtschinnikow warnt lieber einmal mehr als zu wenig vor möglichen Gefahrenmomenten. Und er spricht aus Erfahrung: „Ich bin im Finnischen Meerbusen selbst eingebrochen und habe dabei das beherzigt, was ich jetzt hier den Leuten predige.“
Die Mannschaften – jeweils fünf Männer und eine Frau in zwei eigenen Geländewagen – kommen überwiegend aus Russland, acht sind international besetzt. Unter den rund 100 akkreditierten Journalisten ist ein Kamerateam der ARD. Es wird die Faszination der Rallye auch hierzulande bekannt machen.
Veranstaltet wird der Gewaltritt von einem Moskauer Club namens „Expedizija“, der Abenteuer als Sauerstoff für die Seele vermarktet. Der Club hat insgesamt 15 Kilogramm Gold für die drei erstplatzierten Teams ausgelobt und die Trophy geschickt mit Superlativen beworben: Die 12.000 Kilometer beziehen sich allein auf die direkte Straßenverbindung – Weltrekord im Winter. Länger ist überhaupt nur eine einzige Rallye, und zwar die von Paris nach Kapstadt im Sommer mit 14.000 Kilometern. Welche Distanz bei der „Expedition“ durch die zahlreichen Umwege dann tatsächlich zurückzulegen ist, bleibt abzuwarten.
Das Projekt ist mit einer gehörigen Portion Spieltrieb ausgetüftelt worden. Originelle Sonderaufgaben im Stile einer Schnitzeljagd auf Rädern verlangen den Teams strategische Streckenplanung, Orientierungs- und Koordinationsvermögen ab. Zwischen St. Petersburg und Moskau werden beispielsweise die wichtigsten Hauptstraßen mit Strafzeiten belegt, so dass nur verschlungene Pfade schnell ans Ziel führen.
Die Bewohner abgelegener Ortschaften reiben sich verwundert die Augen über den rätselhaften Durchgangsverkehr. Und sie geben wertvolle Tips. Wjatscheslaw Lukaschow vom Team „Lukashev.ru“ berichtet schmunzelnd: „Eine Babuschka hat uns gesagt, sieben Autos seien in die eine Richtung weiter und drei in die andere. Da konnten wir uns dann unseren Reim darauf machen.“
Rennkommissar Alexander Dawidow bringt das Konzept auf folgenden Nenner: „Bei uns soll der menschliche Faktor ausschlaggebend sein, nicht die Technik. Wir wollten keine herkömmliche Rallye, bei der nur die Schnelligkeit zählt.“ Profis mit noch so teurer Ausrüstung wären nicht automatisch im Vorteil. Aber sie sind auch nicht die eigentliche Zielgruppe, sondern Amateure, Enthusiasten. Die „Expedition“ ist mindestens so sehr Lebenserfahrung wie Sportereignis. Und so empfinden das auch die Mannschaften, die jeden Tag in vollen Zügen genießen. „Da werde ich meinem zehn Monate alten Sohn Maxim später echt etwas zu erzählen haben, so Lukaschow.
Erstes Opfer der Rallye wurde das ukrainische Team „Adrenalin“, das bereits bei der ersten Sprintprüfung als letztplatziertes Team ausscheiden musste. Immer „die Letzten beißen die Hunde“, so die Regeln der Rallye. Der ukrainische Kapitän Wiktor Schurawljew wollte von Trübsal trotzdem nichts wissen: „Uns geht’s doch nicht ums Gold, sondern um die Eindrücke. Schauen Sie auf unseren Namen! Wir fahren außer Konkurrenz weiter mit.“
Weniger locker ging es im Moskauer Team FDA zu, das sich abmeldete, weil sich die Mitglieder auseinander dividiert hatten. Rennleiter Alexander Krawzow kommentiert das trocken: „Es mag hart klingen, aber uns ist es lieber, dass jene Mannschaften, die am wenigsten auf die Herausforderungen vorbereitet waren, nicht konfliktfähig sind und frühzeitig Ermüdungserscheinungen zeigen, in Europa bleiben oder nur noch als Touristen dabei sind.“
Leistungsunterschiede gibt es auch bei den Geländewagen, aber sie fallen kaum ins Gewicht. „Veteran“ ist ein spartanischer russischer UAS aus dem Jahre 1975, auf den sein Besitzer Juri Sanin aus Murmansk große Stücke hält: „Robuster als alle ausländischen Fabrikate hier.“ Ansonsten verrichten überwiegend Japaner ihren Dienst auf der Piste: Allradler vom Band, die für den Einsatz aufgerüstet wurden, Schnorchel, Satellitennavigation oder einen zweiten Tank an Bord haben.
Der Toyota Land Cruiser von „Lukashev.ru“ mit 4,2 Liter Hubraum und 285er Reifen wiegt so an die drei Tonnen und schluckt mehr als 20 Liter Diesel auf 100 Kilometer. Dafür ist die Kiste besonders stabil, was der Ludwigsburger Eugen Rudy dankbar bemerkte. Als er für sein Team am Steuer saß, konnte er an einer Kreuzung, die auf keiner Karte stand, nicht mehr rechtzeitig reagieren. Das Auto machte einen „Abflug“ über die Böschung. Aber nach dem ersten Schreck amüsierten sich alle prächtig.
Rudy fühlt sich wie auf Heimaturlaub. In Kasachstan aufgewachsen, lebt der 29-Jährige schon lange in Deutschland und schwäbelt original. Dennoch bildet er mit seinen russischen Teamkollegen eine verschworene Gemeinschaft. Rudy hat sie vor anderthalb Jahren durch Zufall kennen gelernt. Auf der Durchreise nach Italien ging den Moskauern in Deutschland das Getriebe kaputt. Der Hobbymechaniker half – und wurde ins Team geholt.
Die „Expedition Trophy“ erntet viel Lob von internationalen Beobachtern: Der Franzose Jean Januard, Experte für Extremsport meint: „Ich bezweifle, dass die Rallye Paris-Dakar in ihren Anfängen so einen Standard aufzuweisen hatte.“ Der Clou ist ein weißer Luxuszug, der die Presse, Ehrengäste und den Organisationsstab die Strecke entlang chauffiert.
Er sollte in der Klubfarbe von „Expedizija“ ganz in orange gehalten sein, doch die russische Bahn schickte ein Schreiben: alles andere, nur kein Orange. Ohne Begründung. Wie es heißt, handelt es sich um Anweisung aus politischen Kreisen. Für die ist Orange seit der ukrainischen Revolution offenbar ein rotes Tuch.
Die Trophy soll in Zukunft jährlich ausgetragen werden, mit wechselnden Strecken, aber unbedingt im Winter und unbedingt transkontinental. Das Teilnehmerfeld wollen die Veranstalter um Mannschaften aus aller Welt erweitern. Rennleiter Krawzow: „Nächstes Jahr hätten wir hier gern drei bis vier Teams aus Deutschland.“ Und auch Bergsteiger Reinhold Messner soll als Experte für Eis und Schnee erneut eingeladen werden. Diesmal hat er noch abgesagt.
*** Ende ***
Tino Künzel