Nördliche Territorien oder südliche Inseln?
Nördliche Territorien oder südliche Inseln?
Auf den Kurilen, einer Inselgruppe im Ochotskischen Meer, lagern vermutlich 360 Mio. Tonnen Öl, Gold, Eisen, Titan und andere Schätze. Seit Jahrzehnten streiten Japan und Russland um die Region – auch ein neuer Kompromissvorschlag der russischen Regierung wird keine Einigung bringen.
von n-ost-Korrespondentin Veronika Wengert, Moskau (E-Mail: v_wengert@yahoo.com, Tel. 007-095-248 23 30)
Moskau (n-ost) Ein wenig erinnern sie an eine Perlenkette, deren einzigartige Glieder sich in großzügigem Abstand an Russlands Ostküste schmiegen: Die Kurilen, deren mehr als 30 größere und unzählige kleine Inseln auf der Landkarte wirken, als seien sie von zittriger Hand aufgefädelt – ungleichmäßig, aber dennoch eine Einheit bildend. Über 1 200 Kilometer schlängeln sich die Inseln durch den rauen Pazifik, fast wie eine Brücke reichen sie von der Halbinsel Kamtschatka im äußersten Nordosten Russlands bis kurz vor die japanische Halbinsel Hokkaido.
Nur vier Kilometer sind es hier, die Russland von Japan trennen. Für geübte Ruderer eine leicht zu bewältigende Strecke, könnte man zunächst annehmen – zu Zeiten des Kalten Krieges reine Utopie: Damals gab es wohl keine andere Grenze im Land, die besser überwacht gewesen wäre. Schuld daran waren die mächtigen Abhöranlagen der USA, die in allernächster Nachbarschaft auf der japanischen Insel Hokkaido platziert worden waren. Mit ihrer weit reichenden Kapazität konnten sie sogar das Geschehen in Sibirien aufzeichnen. Auf die amerikanische Spionagetechnik direkt vor den eigenen Toren reagierte die Sowjetunion Ende der siebziger Jahre mit einer Division Bodentruppen und 40 MIG-23B-Jagdbombern. Hokkaido sah sich durch diese Militäreinrichtung bis Mitte der neunziger Jahre bedroht.
Auch wenn sich der politische Wind heute gedreht hat, bleiben die Kurilen seit nunmehr 60 Jahren ein Zankapfel: Die Sowjetunion hatte die Inseln zum Ende des Zweiten Weltkriegs besetzt, ein Friedensvertrag war unter anderem wegen der amerikanischen „Aktivitäten“ auf Hokkaido nie unterzeichnet worden. Tokio fordert daher bis heute die vier südlichen Inseln Etorofu (russisch: Iturup), Shikotan, Kunashiri und die Habormai-Gruppe vor Nemoru zurück, auf denen bis 1946 etwa 11 600 Japaner lebten, die damals das Land verlassen mussten. Die territoriale Forderung Tokios umfasst fast die Hälfte der Gesamtfläche der Kurilen, die etwa 15 600 Quadratmeter ausmacht. In Japan werden die südlichen Kurilen bis heute nur die „nördlichen Territorien“ genannt – dabei wurde die Staatsgrenze zwischen Russland und Japan bereits vor genau 150 Jahren im Vertrag von Simoda vereinbart.
Erst vor wenigen Wochen hatte die russische Regierung über einen Kompromiss nachgedacht: Zwei der vier Kurilen sollen an Japan zurück gegeben werden. Diesen Vorschlag lehnte der japanische Premierminister Junichiro Koizumi jedoch strikt ab. Nach einer Sitzung des russisch-japanischen „Rates der Weisen“ wurde Russlands Position noch deutlicher: Oberbürgermeister Jurij Luschkow, der zugleich Vorsitzender des Rates auf russischer Seite ist, sagte deutlich, dass die Lösung des Territorialstreites den kommenden Generationen überlassen werden solle – notwendig sei jedoch ein vernünftiger Kompromiss.
In diesen Tagen veröffentlichte das russische Ministerium für Naturressourcen nun einen Bericht, in dem der Reichtum der Inselgruppe deutlich wird: Öl, Gas, Gold, Eisen, Titan und andere Mineralien, deren Abbau bislang praktisch noch nicht in Angriff genommen wurde. Schätzungen zufolge sind es 364 Millionen Tonnen Öl, die vor den Inseln lagern. Nun plant die russische Regierung ein Programm zur Verbesserung der Infrastruktur und der Förderung der Bodenschätze. Die Naturressourcen seien zu wertvoll, dass Russland die Kurilen nicht aufgeben könne, so die deutliche Aussage des Ministeriums russischen Medienberichten zufolge.
Auf den ersten Blick sind die Kurilen eine sehr unwirtliche Region: Mehr als 40 aktive Vulkane überziehen die Inseln, wobei der höchste Gipfel Alaid auf Atlasow 2 339 Meter misst. Die Wahrscheinlichkeit von Erdbeben ist sehr hoch, aber auch mit Seebeben muss gerechnet werden: 1952 kamen mehr als 2 300 Bewohner der nördlichen Inseln Paramushir und Shumshu ums Leben, die Stadt Sewero-Kurilsk wurde damals infolge des Tsunami fast völlig zerstört. Dichte Nebelbänke, Fröste und Stürme, die durchaus eine Geschwindigkeit von 40 Metern pro Sekunde erreichen können, prägen das raue Klima.
Für Natur- und Tierfreunde gelten die Kurilen jedoch als eine der schönsten Landschaften der Welt: Die einzigartige Flora und Fauna ist durch die Isolation von der Außenwelt weitgehend erhalten geblieben, mehr als 4 000 Flüsse und Gewässer durchziehen die Landschaft. Seltene Pflanzenarten wie die „steinerne Birke“ oder der Kurilen-Bambus sind nur hier anzutreffen, viele Spezies sind in die rote Liste der gefährdeten Tier- und Pflanzenarten aufgenommen.
Unschätzbare Bioressourcen bergen auch die Gewässer rund um die Kurilen, die als eines der größten Fischfanggebiete Russlands gelten: mehrere Lachs-Arten, Hering, Flunder, Makrele, Heilbutt, Krabben, Shrimps und Muscheln sind nur einige Reichtümer, die die Natur zu bieten hat. Auch die Ainu, die Ureinwohner der Kurilen, die seit etwa 25 000 Jahren hier siedeln, leben traditionell vom Fischfang, aber auch von der Jagd. In ihrer Sprache bedeutet die Silbe „Kur“ übersetzt so viel wie „Mensch“ oder „Volk“. Ob das Tauziehen um die „Inseln des Volkes“ demnächst ein Ende nehmen wird, bleibt abzuwarten.
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Veronika Wengert