Handel, Musik und die alte Ordnung
Die Luxuslimousinen der Hauptstadt sucht man hier vergebens. Stattdessen prägen Pferdefuhrwerke beladen mit Altkleidern das Bild – auf dem Weg zu einem der Roma-Basare der Stadt. Wenn es Abend wird, brennt der zu eindrucksvollen Bergen aufgehäufte Müll und erfüllt die Luft mit erstickendem Qualm. Hier leben die Roma in illegalen, unvollendeten Häusern, die oft nur aus einer Etage bestehen, der eine zweite folgen sollte. In dieser „informellen Zone“ ist der Gedanke an das Überleben stärker als alle anderen.
In den Stadtvierteln Rraphishta und Stadiumi wohnen die offiziell 2.622 registrierten Roma der Stadt. Sie selbst nennen sich „arixhi“ – „Männer mit dem Bär“, weil sie bis in die 1920er Jahre mit Rahmentrommel und Tanzbären für die Unterhaltung in der „Stadt der Blumen“ zuständig waren. Bis heute haben sie ihre eigene Sprache und ihre kulturelle Eigenheiten bewahrt.
Von den Städtern in Elbasan werden die Roma noch immer als Fremde angesehen. Wie in vielen Orten auf dem Balkan leben sie am Rande der Gesellschaft. Dabei sind sie seit 1604, also seit gut 400 Jahren, fester Bestandteil der albanischen Gesellschaft.
Zwar belegen die offiziellen Statistiken der Stadt kaum Auseinandersetzungen zwischen Albanern und Roma, aber es gibt auch wenig Berührungspunkte zwischen den beiden Volksgruppen. Kohabitation oder gar Heirat sind noch immer tabu. Der Begriff „negative Toleranz“ beschreibt das von Misstrauen geprägte Verhältnis zwischen Roma und Albanern wohl am besten.
Das Roma-Viertel Rrapishta
Der Name Rraphishta erinnert daran, dass das Gebiet früher ein Platanenwäldchen war. Heute herrschen hier Ghetto-artige Zustände und Überbevölkerung, die sich architektonisch in einem Wirrwarr von zumeist illegalen Häusern äußert. Neben dreistöckigen Zementpalästen der reichen Roma findet man die einstöckigen Häuser des alten Elbasan, in denen zumeist alte Roma ihrem veränderten Viertel nachtrauern.
“Rrapishta war immer etwas anderes,” beschreibt es einer von ihnen, “hier fand man Platanenwälder, weit weg von der Stadt. Hier mischten sich die Roma-Stämme. Hier gab es zwar Armut und hier stritt man, aber man tanzte auch zusammen: alles zur gleichen Zeit. Hier spürte man unsere alten Bräuche und Gesetze.“
Das kommunistische Regime von Enver Hoxha, das von den Roma die Niederlassung, Registrierung und Arbeitspflicht erzwang, wird heute von den Roma als Anfang vom Ende einer goldenen Zeit gesehen. In dieser Umbruchsphase entstanden Heldenmythen: Gani Misha ist so ein Held, der sich dem Militärdienst und jeglicher Arbeit verweigerte und nach seiner Gefangennahme durch das Regime mehrmals aus den Gefängnissen entfloh. “Gani war ein echter Roma! Er hatte eine unbeugsame Seele” rufen noch heute seine Verehrer auf den Straßen.
Immer mussten sich die Roma an neue gesellschaftliche Bedingungen anpassen. Als es nach der Wende an Kleidung mangelte, stiegen sie in den Handel mit Altkleidern ein. Ein Teil dieser Sachen stammt aus Griechenland, wo Roma als „palaxhi“ (Kleidersammler) arbeiten. Bis heute ist der Weg in die Emigration eine Überlebensstrategie vieler Roma.
Musik und "grenzenlose Freude"
Für die meisten Roma in Elbasan sichert der Handel das ökonomische Überleben. Der traditionelle Markt für gebrauchte Kleider, auf dem man Stoffe zum Zehntel des normalen Ladenpreises kaufen kann, erfreut sich ungebrochener Beliebtheit.
Ihre traditionelle Musik hingegen ist eine zusätzliche Einkunftsquelle und vor allem gelebte Passion. Seit ihrer Niederlassung haben die Roma die musikalische Tradition der Städter beeinflusst. Auf albanischen Festen beispielsweise dürfen Roma-Musiker nicht fehlen, da sie als virtuose Musiker gelten und eine „grenzenlose Freude“ -„qejfi“ – mitbringen.
Besonders in der Zeit des muslimischen Festmonat Ramadan dominiert die Musik der Roma das Klangbild der Stadt. Bei Sonnenaufgang und -untergang ziehen Trommler und Zurna-Klarinettenspieler durch die Viertel. Erwachsene und vor allem Kinder stecken ihnen kleinere Geldscheine in das Klarinettenrohr oder zwischen die Trommelriemen. Dieses alte musikalische Ritual lässt sich bis ins Persien des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen. Wenn die Musiker um die aus sozialistischer Zeit stammenden Blöcke der Albaner ziehen und auf einen Gruß und eine Gabe aus den Fenstern warten, fühlt man sich an die persischen Ensembles des Schahs erinnert, die durch die Straßen von Isfahan zogen, um die Botschaften der Herrschers der Öffentlichkeit zu verkünden.
Albaniens Roma-Stämme
In Albanien leben verschiedene Roma-Gruppen, die sich selbst als „Stämme“ bezeichnen. Ein älterer Mann mit großem Schnurrbart erklärt, während er seinen starken Tabak raucht: „Wir sind vier Stämme hier in Albanien, die Herli, Meckar, Kurtof und Cergar. In Elbasan gehören wir traditionell zum Herli-Stamm. Die Herlis, das sind die Besten, sie ziehen nur periodisch umher, haben noch den Rat der Alten und ihre Ordnung. Sie halten sich fern von kriminellen Machenschaften. Wir handeln mit Waren und mit Pferden und nebenbei machen wir Musik.“
Die Zugehörigkeit zu einem Stamm definiert traditionell die Lebensart, vor allem den Beruf einer Person. Während die Herli mit Pferden handelten und als Musiker geschätzt werden, arbeiteten die Meckar auf dem Land. Die Kurtof und Cergar waren auf Metallverarbeitung spezialisiert und verstehen es, die Zukunft aus der Hand zu lesen. Unter den vier Stämmen wurden die Herli und Meckar höher angesehen als die Kurtof und Cergar, die als verarmt und unsauber galten. Bis heute hat diese Stammeseinteilung eine gewisse Gültigkeit; die Roma bevorzugen es, innerhalb ihres Stammes zu heiraten.
Unterhaltungsmusik statt Universitätsstudium
Inzwischen ist die Musik für die Herli in Elbasan selten ein Garant für den Lebensunterhalt, sie wird jedoch als ein wichtiger Teil der Roma-Seele verstanden. Einige wenige Musiker, die über einen gewissen finanziellen Rückhalt verfügen, versuchen eine professionelle Karriere. Doch oft verhindern die finanziellen Rahmenbedingungen und die Zukunftssorgen der Familie eine Ausbildung. „Ich wollte gern zur Universität gehen,“ erzählt ein junger Roma-Klarinettist, „Ich war talentiert, ja sogar brillant auf der Musikschule in Elbasan. Aber meine Familie hat es mir nicht erlaubt.“
Das Familienoberhaupt bestimmt traditionell über Beruf und Privatleben der Nachkommen. „Ich habe ein ruhiges Roma-Mädchen geheiratet, lebe ein Familienleben mit drei Kindern und spiele auf Hochzeiten”, sagt der Klarinettist. Das Geschäft mit den Hochzeiten ist für ihn einträglich, während ein Studium seine Eltern einiges gekostet hätte. Viele Roma ziehen die Praxis einer musikalischen Ausbildung vor. “Die Leute hier mögen unsere Musik. Wahrscheinlich kann niemand die Roma-Musik so spielen wie wir, mit diesem Schmerz und dieser Sensibilität. Ich bin froh, dass ich den Weg eines Musikers gewählt habe.“
Zwischen Tradition und Moderne
Ob sich das Leben der Roma innerhalb der sich im Umbruch befindenden albanischen Gesellschaft in naher Zukunft verbessern wird, ist unsicher. Selbst die systematisch mit den Roma arbeitenden NGOs wie UNICEF haben Mühe, ihr Vertrauen zu gewinnen. Auf jede Initiative von außen reagieren sie mit einer abwartenden Haltung. Ein Projekt in Rraphishta beispielsweise wollte Roma-Kinder das Spielen von Musikinstrumenten, das Schreiben der Romani-Sprache und handwerkliche Fähigkeiten wie Korbflechterei vermitteln und stieß auf Ablehnung.
Die Roma sind traditionell eine in sich geschlossene Gruppe mit starken Familienbindungen, die dem Konzept einer modernen Gesellschaft und den „europäischen Standards“ mit einer eigenen Position entgegentritt. Die Musik hilft ihnen, das Leben zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Tradition und Moderne, zu meistern.