Proteste gegen gigantisches Ölprojekt
Moskau (n-ost). Viele sind es nicht, die vom lukrativen Geschäft mit dem schwarzen Gold profitieren: die globalen Öl-Multis, deren Glaspaläste die maroden Wohnblocks von Juschno-Sachalinsk überragen, vielleicht noch die Casino-Betreiber, deren Glitzertempel sich in der Hauptstadt der russischen Insel Sachalin auf fast wundersame Weise vermehren. Und schließlich der Funktionärsapparat, der ohne Rücksicht auf das Volk beim Roulette um die größten unerschlossenen Öl- und Gasvorkommen der Welt mitspielt: Mehr als 13 Billionen Barrel sind es, die in den kommenden Jahren im Schelf vor Sachalin aus dem Pazifik gefördert werden sollen (ein Barrel entspricht etwa 159 Litern).
Es ist die größte Investition in der Geschichte Russlands: In sechs Etappen, die der Reihe nach von „Sachalin-1“ bis „Sachalin-6“ durchnummeriert sind, sollen insgesamt 100 Milliarden US-Dollar Kapital fließen. Allein in das Förderprojekt „Sachalin-2“ wurden bislang zehn Milliarden Dollar investiert. Federführend ist das Firmenkonsortium „Exxon-Mobile“, bestehend aus den japanischen Konzernen Mitsubishi und Misui und der britisch-niederländischen Shell, die bereits bei Ölförderungen in Nigeria und bei der damals geplanten Versenkung der Bohrinsel Brent-Spa in der Nordsee eine unrühmliche Rolle gespielt hat.
Vor allem die Ureinwohner von Sachalin bleiben beim dicken Geschäft mit dem Öl außen vor – die Niwchen, Nanaier, Oroken, Orotschen und Ewenken. 650 000 Einwohner leben insgesamt auf der 950 Kilometer langen Halbinsel. Rund 3 150 Personen gehören einem der so genannten indigenen Völker an. Mit gut 2 000 Angehörigen stellen die Niwchen den Großteil dieser Bevölkerungsgruppe, die traditionell vom Fischfang lebt, während sich andere auf Rentierzucht spezialisiert haben.
Dass die Indigenen nicht von den Naturressourcen auf Sachalin profitieren, wird vielfach mit deren geringen Qualifizierung begründet. Nur die wenigsten haben einen Job in der Ölbranche. Und wer einen hat, muss in diesen Tagen bangen – zumindest in der Siedlung „Wal“: Die Wut gegen den Bau zweier Pipelines im Rahmen des Projekts „Sachalin-2“ hat dort 300 Ureinwohner auf die Straßen getrieben. Baustellen, Zufahrtswege und Wirtschaftsobjekte der internationalen Konzerne im Nordosten von Sachalin wurden gewaltlos blockiert. Mit der Aktion „Grüne Welle“ wollen die Menschen auf die zunehmende Zerstörung der Flora und Fauna in ihrem angestammten Lebensraum aufmerksam machen. Unterstützt wurde die Protestaktion von zahlreichen Organisationen im In- und Ausland, unter anderem vom World Wildlife Fund (WWF) und der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in München.
Von den Verantwortlichen in Wirtschaft und Regierung fordern die Indigenen mit ihren Protesten ein unabhängiges Umweltverträglichkeitsgutachten sowie die Gründung eines Fonds für die Ureinwohner, der die Zerstörung ihres Lebensraumes kompensieren soll, sagt Jana Dordina von „Raipon“, der Dachvereinigung der Ureinwohner Russlands. Zudem wünschen sich die Indigenen bislang erfolglos eine Mitbestimmung bei den geplanten Bauprojekten.
Im Vorfeld der Aktion „Grüne Welle“ kam es zu Zwischenfällen, wie ein Augenzeuge berichtet: Firmenvertreter der Ölkonzerne seien von Tür zu Tür gegangen, um den Indigenen zu „empfehlen“, besser nicht an den Protestaktionen teilzunehmen – wenn ihnen ihr Job wirklich etwas bedeute. Rund 30 Personen aus der Siedlung „Wal“ sind in der Ölbranche beschäftigt. Jewgenij Schwarz vom WWF Russland zeigte sich empört über diese Einschüchterungsmaßnahmen.
Die beiden geplanten Pipelines sollen sich ihren Weg durch Weidegebiete von Rentieren, unberührte Wälder, aber auch Laichplätze von Lachsen bahnen: Genau 1 103 Flüsse und Gewässer sind es, die das schwarze Gold in 800 Kilometer langen Röhren von Nord nach Süd durchquert, wo es im Hafen neben Juschno-Sachalinsk auf Tanker verladen und nach Asien und Nordamerika verschifft wird. Sachalin soll zu einem der wichtigsten Öl- und Gaslieferanten für Japan und andere Länder in der Region werden.
In der Vergangenheit war es wiederholt zu Umweltskandalen rund um das Großprojekt gekommen: Bereits zwischen 1999 und 2001 gelangten bei Bohrarbeiten mehr als 70 000 Tonnen kontaminierte Erde ins Ochotskische Meer. Zur gleichen Zeit, als die umstrittene erste Bohrplattform „Molikpak“ errichtet wurde, machten Fischer in der unweit entfernt gelegenen Piljtun-Bucht eine grausige Entdeckung: Mehr als 5 000 Tonnen toter Pazifik-Hering waren angeschwemmt worden, so der WWF Russland.
Bedroht sind auch die letzten 100 Nordpazifik-Grauwale, die die Sommermonate vor Sachalin verbringen und durch den Bohrlärm sowie einer veränderten Biosphäre im Wasser vertrieben werden, warnt der Internationale Tierschutzfonds (IFAW). Sachalin befindet sich zudem in einem von Erdbeben gefährdeten Gebiet. Bereits kleinere Erdstöße hier könnten zu einer Naturkatastrophe führen.
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Veronika Wengert