Russland

Russische Rentner protestieren weiterhin gegen Sozialabbau


„Wir haben das Recht zu leben“, steht auf einem der vielen Transparente, das aus der Menschenmenge während einer Demonstration im Moskauer Stadtzentrum emporgehoben wird. Immer wieder versammeln sich Hunderte oder gar Tausende von Rentnern in den größeren Städten. Trotz der Kälte sind es immer wieder die gleichen Bilder aus Sankt Petersburg, Kasan, Perm oder Jekaterinburg, die selbst kremltreue Fernsehkanäle ausstrahlen: aufgebrachte Pensionäre oder weinende Alte können es nicht fassen, was derzeit auf ihrem Rücken ausgetragen wird. Sogar Rücktrittsforderungen von Präsident Wladimir Putin werden laut. Der hatte sich lange Wochen zu den massiven Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit ausgeschwiegen, wie ernst er die öffentlichen Proteste nimmt, zeigen nun erste Zugeständnisse an die Demonstranten. Eine Erhöhung der Pensionen um 240 Rubel (etwa 6,50 Euro) ab 1. März – eine Anhebung der Rente um 100 Rubel (etwa 2,70 Euro) war jedoch ohnehin für den 1. April geplant, zudem kann die Teuerungsrate durch solche Beträge kaum kompensiert werden.

Immerhin mehr als ein Viertel der Bevölkerung ist direkt betroffen von der Abschaffung der „Lgoty“, der staatlichen Vergünstigungen: Statt kostenloser Bus- und Bahnfahrten im Nahverkehr, symbolischer Mieten und verbilligter Medikamente erhalten sie künftig eine materielle Kompensation, die jedoch nur einen geringen Teil der tatsächlichen Kosten deckt.

Die Rentenerhöhung deckt aber etwa in Sankt Petersburg nicht einmal ein Drittel der Kosten für eine Monatskarte, die allein 600 Rubel kostet. Der dortige Vize-Gouverneur Michail Osejewskij sicherte den Rentnern nun jedoch zu, dass die Differenz aus dem föderalen oder regionalen Budget übernommen werde. Zudem werde über die Einführung einer billigeren Monatskarte für Rentner nachgedacht. Das Zugeständnis war auch hier nach der größten Demonstration im Land gemacht worden, als über 10 000 Menschen die Flaniermeile Newskij Prospekt und die Zufahrtswege zum Flughafen blockiert hatten.

Andere politische Machthaber in den russischen Regionen reagierten ähnlich entgegenkommend: Bus und Bahn sind „bis auf weiteres“ zum Beispiel auch in Moskau für Empfänger der sozialen Vergünstigungen wieder kostenlos. Für Vergünstigungen im Moskauer Umland stellt die Gebietsverwaltung den Russischen Eisenbahnen 441 Millionen Rubel (etwa 12 Mio. Euro) zur Verfügung.
Die neuen Regelungen sind ebenso wenig einheitlich, wie es die gesamte Reform ist. Da jede Bevölkerungsgruppe bei einem anderen Ministerium erfasst ist, besteht kein Überblick, wer überhaupt aus welchem Budget gefördert wird. Dies soll erst in den kommenden Wochen genauer überprüft werden. Die ursprüngliche Idee der Sozialreformen war, den einzelnen Regionen im Zuge einer umfassenden Haushaltsanierung mehr finanzielle Verpflichtungen aufzubürden und letztlich die wirklich Hilfsbedürftigen in der Bevölkerung zu erreichen.

„Gerade den Regionen mehr finanzielle Verpflichtungen zuzumuten, ist ein Hohn sondergleichen“, sagt der Rentner Sergej Medwedew aus Slawgorod in der westsibirischen Altairegion. Die regionalen Budgets stehen allerorten vor dem Kollaps und können schon jetzt den Ansprüchen kaum nachkommen. Besonders die strukturschwache Altairegion, wo nach dem Ende der Sowjetzeit zahlreiche Kolchosen pleite gemacht haben und keine andere Industrie, die den Menschen Arbeit geben könnte, nachkam, sind die Rentner von Putins Sozialreform stark betroffen. „Alle Vergünstigungen sind weggefallen. Ich bekomme eine monatliche Ausgleichszahlung von 100 Rubel (2,80 Euro) im Monat. Was kann ich davon kaufen?“. Medwedew ist verbittert. Schon eine Fahrt ins Krankenhaus kostet den Rentner hin und zurück 16 Rubel. „Ich brauche doch auch noch Tabletten“.

Die Vergünstigungen galten zu Sowjetzeiten als Zeichen der Wertschätzung, die der Staat bestimmten Personengruppen wie den „Helden der Arbeit“ oder Armeeangehörigen entgegenbrachte. Nach dem Ende des Sozialismus, der für viele große wirtschaftliche Not und einen niedrigen Lebensstandard mit sich brachte, wurden die „Lgoty“ für fast alle Rentner im Land eingeführt. In Russland, wo jeder fünfte unter der Armutsgrenze lebt, sind die Vergünstigungen jedoch längst keine Form der Wertschätzung oder Anerkennung mehr, vielmehr haben sie einen existenziellen Charakter angenommen, schließlich kann ein Rentner durchschnittlich mit kaum mehr als etwa 1000 Rubel (30 Euro) Rente rechnen, damit gehören die Alten zu den Ärmsten der russischen Armen.

Viele haben längst resigniert, gerade in den abgelegenen Provinzen regt sich kaum Widerstand gegen die sozialen Kürzungen. Demonstrationen wie in den russischen Großstädten gab es etwa im östlichen Altai, tausende Kilometer von Moskau entfernt, nicht. „Was bringen Proteste? Die haben da oben schon immer gemacht, was sie wollten. Wir sind zu schwach“, sagt Medwedew und resigniert. Dass sich außer den kleinen Zugeständnissen viel an der Reform ändern wird, glaubt er nicht: „Die haben vergessen, wer das Land aufgebaut und verteidigt hat. Wir waren die Pioniere.“

Für viele Kriegsveteranen dürften die derzeitigen Sozialreformen jedoch umso entwürdigender anmuten, da sie gerade im „Siegesjahr“ stattfinden, in dem Russland mit aufwändigen Großveranstaltungen den 60. Jahrestag seit Kriegsende begehen wird.

*** Ende ***
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Veronika Wengert; Tobias Zihn


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