Leben in getrennten Welten
Filiz Husmenovas Ziele sind hoch gesteckt. „Wir erwarten eine Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit bezüglich der erfolgreichen Integration der Roma im europäischen Maßstab.“ Husmenova ist Ministerin und nationale Koordinatorin der „Dekade der Roma Integration“, die am (kommenden) Mittwoch in der Hauptstadt Sofia feierlich eröffnet wird. Neben den Regierungschefs und Experten aus den Teilnehmerstaaten Bulgarien, Ungarn, Mazedonien, Kroatien, Serbien und Montenegro, Tschechien, Rumänien und der Slowakei werden weitere hochrangige Gäste erwartet, darunter James Wolfensohn, Präsident der Weltbank, sowie George Soros, Gründer der Open Society Foundation. Die beiden Organisationen sind die maßgeblichen Unterstützer der internationalen Initiative, mit der osteuropäische Regierungen erstmals eine Zusammenarbeit im Bereich der Roma-Politik planen.
An Handlungsbedarf mangelt es nicht. Mehr als zwei Drittel der geschätzten sieben bis neun Millionen Roma Europas leben in mittel- und osteuropäischen Staaten. In Bulgarien, Mazedonien, Rumänien und der Slowakei stellen die Roma einen Bevölkerungsanteil von neun bis elf Prozent. Die Angehörigen der Minderheit sind über die Ländergrenzen hinweg von einer Vielzahl von sozialen Problemen betroffen. Die Armut der Roma sei multidimensional, konstatiert die Wissenschafterin Dena Ringold in einer vor kurzem erschienenen Studie der Weltbank. Diskriminierung, Langzeitarbeitslosigkeit, fehlende und strikt getrennte Ausbildung würden sich zu einem schwer lösbaren Komplex verbinden. In Ungarn, Rumänien und Bulgarien ist die Armutsrate der Roma um das vier- bis zehnfache höher als bei Nicht-Roma. Die Lebenserwartung von Roma liegt zehn Jahre unter dem osteuropäischen Durchschnitt.
Gesundheitsversorgung, Wohnen, Ausbildung und Arbeit sind daher die zentralen Themen der Dekade. Jede Delegation wird in Sofia einen nationalen Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen und Zielen vorstellen. Kontinuierliches Monitoring und Folgetreffen sollen dazu beitragen, dass Informationen und gute Praktiken künftig vermehrt ausgetauscht werden. Der bulgarische Ministerpräsident und Gastgeber Simeon Sakskoburggotski ist stolz darauf, dass die Eröffnung der „Dekade“ in Bulgarien stattfindet. Während er sich im Ausland gerne als ein Verfechter der Menschenrechte präsentiert, sprechen die jährlichen Berichte der Europäischen Kommission eine andere Sprache. Mehrmals wurde dort das fehlende Engagement der bulgarischen Regierung in Sachen Roma kritisiert.
Ressentiments gegen die Minderheit sind weit verbreitet. Laut einer Umfrage der Agentur „Alpha Research“ akzeptieren nur ein Viertel der befragten Bulgaren Roma als Nachbarn. Diese Einstellungen sind ein Spiegel der Realität: Roma und Nicht-Roma leben in getrennten Welten. Die meisten Angehörigen der Minderheit bewohnen abgegrenzte Siedlungen, in die kaum ein Bulgare je einen Fuß setzt.
Das Leben im Abseits beginnt bereits in der Schule. Ethnisch getrennte Schulen sind noch immer Realität. Auch die Grundschule im Sofioter Roma-Viertel Fakulteta sei eine derartige „Ghetto-Schule“ mit Hundert Prozent Roma-Kindern, bekräftigt Daniela Mihailova, Mitarbeiterin der Nichtregierungsorganisation „Romani Baht“. „Wir sind der Meinung, dass man diese Schulen schließen und die Kinder in normale öffentliche Schulen schicken sollte. Die Erziehung in der getrennten Umgebung fügt ihnen nur Schaden zu. Wenn sie fertig werden, wissen sie nicht, wie sie in der größeren Gesellschaft leben sollen. Sie haben ihr Viertel nie verlassen und bekommen einen Schock.“
Schon seit einigen Jahren bemühen sich Roma-NGOs landesweit um eine integrative Schulpolitik. Kinder werden aus Roma-Vierteln mit Bussen in „normale“ Schulen gefahren. Sie erhalten zusätzlichen Unterricht, Schulbücher und Verpflegung. Eine mühselige Angelegenheit, die nicht immer leicht durchzuführen ist. Häufig gäbe es Widerstände von Seiten der bulgarischen Eltern oder Lehrer, so Mihailova. Offiziell unterstützt der bulgarische Staat diese Maßnahmen. Für die junge Frau ist das nicht genug. „Auf dem Papier begrüßt der Staat eine gemeinsame Ausbildung aller Kinder, aber aus dem Budget gibt es kein Geld dafür.“ Laut Michail Ivanov, Leiter des „Rates für ethnische und demographische Fragen“, soll das in Zukunft anders werden. Geplant ist die Errichtung eines Zentrums im Bildungsministerium, das die Integration der Schulkinder koordiniert und erweitert. Dies soll mit öffentlichen Geldern geschehen.
„Nov Zhivot“ – „Neues Leben“: So lautet der Name der Straße am Rande Sofias, in der sich das Büro von „Romani Baht“ befindet. Fakulteta ist ein Stadtteil der bulgarischen Hauptstadt, der fast ausschließlich von Roma bewohnt wird und fast dörflich anmutet. Laut offizieller Angaben leben hier 15.000 Menschen, inoffiziell sind es mehr als doppelt so viele. Die Siedlung liegt auf einem Hügel im Westen der Stadt, die Wohnblocks der umliegenden Viertel scheinen meilenweit entfernt. Die meisten Menschen leben in kleinen Häusern oder Baracken, die wenigen luxuriösen Bauten stechen aus der ärmlichen Szenerie heraus. Von hier aus sind es nur ein paar Schritte zur Schule. Auf dem betonierten Sportplatz herrscht reges Treiben. Ein Dutzend Fußballteams spielen hier auf kleinen, imaginär abgegrenzten Flächen, Trainer betreuen die Kinder. Die Jungen spielen konzentriert, ein paar Mädchen schlendern über den Platz. Es ist ein sonniger Tag und die Bewohner nutzen die warmen Strahlen, um sauber zu machen. Teppiche werden gewaschen, die Straßen gekehrt, ein Junge poliert sein Auto – einen BMW. Ein paar Männer haben es sich im Freien auf Plastikstühlen bequem gemacht. „Alle sollten so leben wie wir. Das ist das wahre Leben!“ sagen einer von ihnen und lacht. Ein paar Ecken weiter beschwert sich ein alter Mann über die Lebensbedingungen im Viertel. Es gebe keine Kanalisation, der Müll werde nicht entsorgt.
Dass die Roma bereits zum Thema internationaler Regierungskonferenzen geworden sind, wissen hier nur die Wenigsten. Politiker kommen normalerweise nur vor den Wahlen nach Fakulteta. Bald ist es wieder soweit: Im Juni soll in Bulgarien ein neues Parlament gewählt werden. Aus Erfahrung wissen die Bewohner schon jetzt, was sie dann erwartet. Gratis Frikadellen, eventuell neue Schuhe und viele Versprechen.