„Wer sich äußerlich unterscheidet, lebt gefährlich“
Moskau (n-ost). „Wir freuen uns auf ihren Besuch“ – mit diesen Worten begrüßt das kleine Schild im Schaufenster seine Kunden. Ein Satz, der für Alexander Lakschin zynisch klingen mag. Am 14. Januar war der schwerverletzte Rabbiner in jenen unscheinbaren Lebensmittelladen im Moskauer Stadtteil Marina Roschtscha geflüchtet: „Wir baten um Schutz, wollten die Polizei anrufen.“ Wenig später fand er sich jedoch auf der Straße wieder, mitsamt seinen Begleitern, einem befreundeten Rabbiner und dessen zehn- und zwölfjährigen Neffen aus Kanada. An die Worte der Verkäuferin erinnert sich der 49-jährige Professor mit Entsetzen: Er solle verschwinden, bevor er den Boden mit Blut verschmiere.
Lakschin und seine Begleiter hatten mit Freunden Sabbat gefeiert, auf dem Heimweg mussten sie eine Fußgängerunterführung durchqueren. „Ich sah sie bereits von weitem, es waren vielleicht sechs Jugendliche“, erzählt der Rabbiner. Plötzlich ging es sehr schnell, alle rannten. Dann spürte er einen dumpfen Schlag von hinten, sank zu Boden, wurde getreten und mit antijüdischen Parolen beschimpft. Irgendwann zerschellte eine Bierflasche an seinem Kopf. Als der Alptraum vorüber war, rappelte er sich auf, holte seine Bekannten ein, gemeinsam suchten sie im erstbesten Geschäft um Hilfe. Noch am selben Abend wurde er in eine Klinik eingeliefert.
Wenige Tage später erfuhren auch Journalisten davon. Das ungewöhnlich große Medienecho habe die Untersuchung des Falles beschleunigt, schätzen Experten. Drei mutmaßliche Täter wurden knapp eine Woche später festgenommen, beteuern allerdings, keine Nationalisten zu sein. Für Lakschin war es jedoch eine „hundertprozentig antisemitische Tat“, kein Jungenstreich, zumal erst zwei Stunden zuvor ein jüdisches Ehepaar in der selben Unterführung angegriffen worden war. In der Vergangenheit war es im Stadtteil Marina Roschtscha bereits mehrfach zu Übergriffen an orthodoxen Juden gekommen, bestätigte der jüdische Dachverband FEOR. Lakschin selbst sind etwa zehn Fälle bekannt. In dem Bezirk befinden sich mehrere jüdische Einrichtungen, darunter eine Synagoge. „Wir orthodoxen Juden fallen auf. Und jeder, der sich in diesem Land äußerlich unterscheidet, lebt gefährlich“, sagt Lakschin, der selbst amerikanischer Staatsbürger ist.
Im vergangenen Jahr starben in Russland 44 Menschen an den Folgen ethnisch motivierter Gewalttaten – doppelt so viele wie im Vorjahr. Dies geht aus einem aktuellen Bericht des Moskauer Menschenrechtszentrums „Sova“ hervor. „Wir dokumentieren nur, was in den Medien publik wird oder was unsere Partnerorganisationen wissen – und das ist eben nur ein Teil“, sagt die Verfasserin Galina Koschewnikowa. Die offiziellen Statistiken hingegen differenzieren nicht nach den Tatmotiven, wie ein Blick auf die Website des russischen Innenministeriums deutlich macht.
Antisemitismus in Russland äußere sich vor allem in der Verwüstung jüdischer Friedhöfe, kultureller Einrichtungen und Synagogen, so die Autorin. Im Vorjahr seien in mindestens sechs Städten Friedhöfe geschändet worden, zuletzt sorgte die Zerstörung von 30 jüdischen Grabmälern in St. Petersburg Mitte Dezember für Empörung. Von gewaltsamen Übergriffen auf jüdische Mitbürger ist in dem Bericht hingegen nur vereinzelt die Rede. Kritisiert werden zudem die Medien für antisemitische Wortschöpfungen wie „Oligarchen-Jude“, im Hinblick auf die Jukos-Affäre.
Russlands Hauptrabbiner Berl Lazar forderte unterdessen die Behörden auf, entschiedener als bisher auf rassistisch motivierte Gewalt zu reagieren und die Sicherheitsvorkehrungen für jüdische Einrichtungen zu verschärfen. Nur wenige Tage zuvor hatte Lazar gegenüber der Tageszeitung „Iswestia“ betont, dass Antisemitismus in Russland längst nicht so ausgeprägt sei, wie in den USA angenommen werde. Damit hatte der Hauptrabbiner auf den globalen Lagebericht des State Departement reagiert, der Ende vorigen Jahres veröffentlicht worden war: Die antisemitische Situation in Russland wird darin als „ernst“ eingestuft.
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