Russland

Vor verschlossener Tür

Moskau (n-ost). In einen dicken Fellmantel eingemummelt steht Valentina vor dem deutschen Konsulat in Moskau. Sie stellt sich kurz als „Konsultant“ vor, ihren Nachnamen verrät sie nicht. Valentina berät Ausreisewillige, die Russland den Rücken kehren möchten. Neben praktischen Ratschlägen und Übersetzungen verkauft sie Antragsformulare für umgerechnet zwei Euro. Dass die Vordrucke beim Konsulat eigentlich umsonst erhältlich sind, lässt sie unbeeindruckt. „Dafür müssen sie nicht Schlange stehen“, sagt sie und zeigt auf eine kleine Bude, Eingang drei. Hier werden zwei Mal täglich Ausreiseanträge von so genannten jüdischen Kontingentflüchtlingen angenommen, die nach Deutschland auswandern möchten. Waren es im Vorjahr noch 2469 Anträge, wurden bis Mitte Dezember diesen Jahres nur 1630 Dokumente in Moskau abgegeben, so ein Botschaftssprecher.

An diesem frostigen Wintermorgen haben sich nur wenige Antragsteller vor Eingang drei eingefunden. David Budenowitsch und seine Frau Lilja sind mit dem Nachtzug aus der gut 1000 Kilometer entfernten Wolgastadt Kasan angereist. Die Fahrt habe sie mehr als eine Monatsrente gekostet, klagt Lilja. Und dabei wisse sie nicht einmal, ob alle Unterlagen vollständig seien. „Voriges Mal waren die Papiere meines Mannes verblichen und nicht mehr lesbar. Er musste sie in seinem Geburtsort in Weißrussland erst neu beantragen.“

Vom geplanten Zuzugsstopp, der derzeit in Deutschland diskutiert wird, hat Lilja noch nichts gehört: In der Diskussion ist, dass ab 2006 nur noch osteuropäische Juden unter 45 Jahren aufgenommen werden sollen, die Deutsch sprechen und nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind. Die Regelung wird vor dem Hintergrund debattiert, dass acht von zehn osteuropäischen Juden in Berlin Sozialhilfeempfänger sind und sich die jüdischen Gemeinden oft überfordert fühlen mit der Integration der neuen Mitglieder. In den Jahren 2002 und 2003 wanderten mehr osteuropäische Juden nach Deutschland als nach Israel ein. Mittlerweile leben rund 197.000 osteuropäische Juden in der Bundesrepublik – fast genauso viele, wie in der russischen Hauptstadt wohnen, schätzt die Moskauer Jüdische Gemeinde.

Fast tonlos flüstert Lilja, dass solch ein Zuwanderungsgesetz eine Katastrophe für sie bedeuten würde. „Was soll dann aus uns Alten werden?“, fragt sie mit zitternder Stimme. Lilja ist Russin und in zweiter Ehe mit David verheiratet. Deutsch spricht sie nicht, von Deutschland weiß sie kaum etwas. Nur, dass die medizinische Versorgung gut sei und die Sprache so ähnlich wie Jiddisch klinge, sagt sie. Ihr Stiefsohn, der als erster in der Familie einen Antrag gestellt habe, warte bereits seit sechs Jahren auf die Ausreisebewilligung.
Der 38-Jährige Moskauer Nathan Schlepakow hat sein Einreisevisum bereits im Februar erhalten, dennoch ist er noch immer unschlüssig. „Vielleicht gehe ich nur für eine bestimmte Zeit nach Dessau und komme wieder, wenn ich dort keine Perspektive sehe“, überlegt er. Nathan ist Philosophiedozent und hofft auf Arbeit in einer jüdischen Gemeinde in der Bundesrepublik. Einen Monat hat er Deutsch gelernt, das Land kennt er nur aus Büchern. „Meine Mutter konnte neben Jiddisch auch Deutsch, doch sie sprach es selten, weil sie immer den Krieg damit in Verbindung brachte“, so Nathan. Manchmal werde er von älteren Juden in der Gemeinde gefragt, was er eigentlich „in solch einem Land“ wolle. Meist weicht Nathan dann mit der Antwort aus: „Vor Israel habe ich Angst, das ist ein Kriegsland“.

Vor den negativen Folgen der Ausreise warnt Isidor Waizer seine Gemeindemitglieder schon seit Jahren. Der 58-Jährige ist Rabbiner der Synagoge in Balaschina, einer Kleinstadt gut 20 Kilometer östlich von Moskau. „Die soziale Lage bei uns ist schlecht, daher reisen viele Leute nach Deutschland aus“, sagt er. Von falschen Hoffnungen geleitet, seien viele sehr enttäuscht, wie er aus Briefen ehemaliger Gemeindemitglieder weiß. Anderswo würden sich die Migranten ein tieferes kulturelles Judentum erhoffen, das es in dieser Form in Russland nicht gebe: „Viele Gelehrte haben verständlicherweise nicht die nötige Erfahrung und oft lehren sie nur auf Russisch“, so Waizer, der selbst erst seit Mitte der achtziger Jahre Rabbiner ist. Bis zur Perestrojka war er 20 Jahre lang Ingenieur, jenseits des Polarkreises. Die aktuelle Zuzugsdebatte in Deutschland kommentiert Waizer mit einem russischen Sprichwort: „Der Fisch sucht, wo es am tiefsten ist, der Mensch hingegen, wo es am besten ist“.

„Wer wollte, ist schon lange weg“, kommentiert Leopold Kajmowskij gelassen die geplanten Zuzugsbeschränkungen. Der Vize-Präsident der Moskauer Jüdischen Gemeinde hat sein Büro im ersten Stock der hauptstädtischen Choral-Synagoge, die zu Sowjetzeiten die Hauptsynagoge der UdSSR war. Kajmowskij lehnt sich in seinem Bürosessel zurück und überlegt ein wenig. „Hier war es schwierig, deshalb sind die Leute ausgereist und nicht etwa, weil es in Deutschland so gut war“. Nun sei die soziale Lage in Deutschland eben auch angespannt, vermutet Kajmowskij, in Russland hingegen könne man mittlerweile gut leben. Zumindest in Moskau, fügt er hinzu. Dass Deutschland als Einwanderungsland für osteuropäische Juden Israel den Rang abgelaufen hat, verwundert ihn nicht. „Nicht jeder verträgt das heiße Klima in Israel, vor allem ältere Menschen haben Anpassungsprobleme und bevorzugen Deutschland", erklärt Kajmowskij.

Der Hauptrabbiner Russlands, Berl Lazar, möchte sich derzeit noch nicht zur aktuellen Debatte in Deutschland äußern, teilt seine Pressesprecherin Natalja Rykowa mit. Mit einer Stellungnahme zögert auch die deutsche Botschaft in Moskau und verweist auf andere Ministerien in Deutschland, deren Meinung sie lediglich wiedergeben kann. Auch in Berlin geht man mit der Debatte sehr behutsam um: Rainer Lingenthal, Sprecher des Bundesinnenministeriums, sagte, dass nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zum 1. Januar eine neue Grundlage erforderlich sei, die theoretisch auch die alte sein könne. Zeitlich sei noch keine Entscheidung absehbar, da das Thema sehr delikat und sensibel sei, so Lingenthal. Zuvor hatte der der Zentralrat der Juden in Deutschland Widerstand gegen die geplante Neuregelung angekündigt.

Unabhängig davon, sollen aber bereits vor Weihnachten auf einer Sitzung der Innenministerkonferenz Restriktionen beschlossen worden sein. Nach Angaben der „Berliner Zeitung“, die sich auf Aussagen des schleswig-holsteinischen Innenstaatssekretär Ulrich Lorenz (SPD) stützt, dürften selbst die 27 000 osteuropäischen Juden, die bereits im abgelaufenen Jahr Anträge gestellt haben, nicht mehr nach Deutschland kommen.

Beim Eurasisch-Jüdischen Kongress in Moskau ist der Unmut groß: „Wenn Deutschland den Zuzug schon begrenzen möchte, dann bitte nicht auf solch primitive Art“, fordert ein Sprecher. In den USA gebe es auch Einwanderungsbeschränkungen, zumindest bestehe dort jedoch die Möglichkeit, dass Rentner im Rahmen einer Familienzusammenführung aufgenommen werden. In Deutschland werde solch eine Option jedoch kategorisch ausgeschlossen, falls das Gesetz verabschiedet werden sollte, so der Sprecher der Vereinigung, die sich für den politischen Dialog engagiert.

Auch Tankret Golenpolskij, Chefredakteur der „Internationalen jüdischen Zeitung“ in Moskau, zeigt sich wenig erfreut über die derzeitige Debatte in Deutschland: „Natürlich hat jedes Land das Recht, seine Einreisebestimmungen selbst zu regeln. Es hat jedoch einen sehr negativen Beigeschmack, wenn sich dies nur auf ein einziges Volk bezieht und nicht auf alle Einwanderer“, sagt der Journalist und verweist auf Israel, wo per Gesetz jeder Jude aufgenommen werden muss, der sich in einem anderen Land diskriminiert fühlt. „Dort gibt es schließlich auch Platz für alle“, sagt Golenpolskij mit Nachdruck.

Ende 

Veronika Wengert



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