Terror ist tanzbar!
Moskau (n-ost). Eigentlich ist die „Tinkow-Brauerei“ ein stinknormaler Moskauer Klub. Aber heute abend passieren hier merkwürdige Dinge. Auf einem Bildschirm hinter der Bühne flackern aktuelle CNN-Nachrichten, sie zeigen Bilder der Zerstörung aus dem Irak und aus Banda Aceh. Direkt daneben sind zwei russische Speznas-Soldaten postiert – in voller Tarn-Montur, mit Bleiwesten, Strumpfmasken und schweren Kalaschnikows im Anschlag. Ist eine Bombendrohung eingegangen? Hat die Mafia mal wieder zugeschlagen? Stehen die Tschetschenen vor der Tür?
Alles falsch – heute abend findet hier das erste Konzert der russischen Sängerin „Nato“ statt. „Keine Angst“, beruhigt das Mädchen mit den tiefschwarzen Augen ihr Publikum, als sie mit anderthalb Stunden Verspätung endlich die Bühne betritt, „es ist mein erstes Konzert, da kann immer irgendwas Unerwartetes passieren. Aber alles wird gut!“ Dann geht der Kommentar des CNN-Sprechers langsam in House-Beats über, die von zwei live gespielten Schlagzeugen verstärkt werden. Eine schwere E-Gitarre setzt ein, Nato hebt das Mikrofon an den Mund, und als sie anfängt zu singen, können die Zuschauer das zwar hören, aber nicht sehen –denn das Gesicht der Sängerin ist hinter einem schwarzen Schleier verborgen, der nur die Augen frei lässt. Auch ihre Texte bleiben den meisten Zuschauern ein Rätsel, denn Nato singt nicht auf Russisch, sondern auf Tadschikisch und Georgisch.
Iwan Schapowalow hat mal wieder zugeschlagen. Als Erfinder des pseudo-lesbischen Popduos „Tatu“ hatte der 37-jährige Musikproduzent vor zwei Jahren die russische Öffentlichkeit schockiert – und die beiden Mädchen als erste russische Popgruppe auch international berühmt gemacht. Dann zerstritt sich Schapowalow mit seinen Schützlingen: Die beiden Mädchen hatten es satt, öffentlich das Lesbenpärchen zu mimen, und setzten ihren Produzenten im vergangenen Sommer vor die Tür. Seitdem ist es still geworden um Julia und Lena. Eine von beiden soll inzwischen verheiratet sein, ansonsten hat man in Russland nichts mehr von ihnen gehört.
Schapowalow aber machte sich sofort auf die Suche nach neuen Schockeffekten – und erfand Nato. Das erste Konzert der Sängerin, angekündigt als „musikalischer Terroranschlag ohne jede Koketterie“, sollte eigentlich schon im vergangenen Jahr stattfinden – und zwar ausgerechnet am 11. September. Kurz vorher brach der reale Terror in Form des Geiseldramas von Beslan über Russland herein. Das Konzert wurde von den städtischen Behörden abgesagt, übrig blieb nur ein im Internet kursierendes Video mit angedeuteter Selbstsprengungs-Szene.
Nichts kann die von Selbstmordattentaten verunsicherte russische Öffentlichkeit derzeit so sehr schocken wie ein Flirt mit dem Terror. Schapowalow weiß das – und mimt deshalb gegenüber den Medien den verträumten Spinner. „Von welcher Provokation redest du?“, fragt er zurück, als man ihn auf den Schockgehalt der Show anspricht: „Ich sehe hier nichts Provokatives. Hör dir einfach die Musik an, dann verstehst du schon.“ Weil Nato hinter ihrem Schleier verborgen bleibt und Schapowalow sich nicht zu ihrer Herkunft äußert, brodelt im Saal die Gerüchteküche. „Sie kommt aus Tschetschenien“, flüstert der eine. „Sie ist gläubige Muslimin“, will der andere gehört haben.
Weder das eine noch das andere stimmt. Nato, soviel verraten Schapowalows Mitarbeiter, ist Halb-Georgierin und Halb-Russin – und muslimisch ist sie genau so wenig, wie Lena und Julia von „Tatu“ lesbisch waren. Ist das Ganze also wieder nur ein kalkulierter Show-Effekt? Immerhin trifft Schapowalow mit seinem Kalaschnikow-Schleiertanz einen wunden Punkt in der russischen Gesellschaft, an den sonst nur wenige zu rühren wagen – ob dahinter Markt-Kalkül oder Idealismus steckt, sei dahingestellt.
Eine knappe Stunde lang trägt Nato ihre selbst geschriebenen Lieder vor, in deren Texten es angeblich um nichts weiter geht als um die Liebe. Trotz orientalischer Melodien trägt der Sound deutlich Schapowalows Handschrift – die meisten Stücke klingen wie Turkpop-Versionen der Tatu-Hits. Ganz zum Schluss singt Nato noch einmal das Stück, das als erste Single veröffentlicht werden soll: „Chor Javon“, ein eingängiger Song mit klarem Hit-Potenzial. Als Nato das Mikrofon absetzt, springen die Speznas-Soldaten auf die Bühne und feuern mit ihren Kalaschnikow-Imitaten wild ins Publikum. Alexej, ein 24-jähriger Konzertbesucher, lächelt müde. „Ich habe mir das Ganze deutlich radikaler vorgestellt“, sagt er. „Maschinengewehre, vermummte Soldaten – mit sowas kann man doch heutzutage niemanden mehr schocken.“
*** Ende ***
Jens Mühling