Stiefelspitzen kündigen den Bräutigam an
Von Veronika Wengert (E-Mail: v_wengert@yahoo.com, Tel. 007-095-2482330),
Fotos von Tino Künzel
Moskau (n-ost) Dreizehn Mal pro Jahr könnte jeder Mensch auf der Welt Neujahr feiern, wenn nicht sogar noch häufiger. Dabei hängt der Zeitpunkt des Jahreswechsels nicht nur von Sonnen- und Mondphasen ab, sondern auch von religiösen Traditionen. Russland bereitet sich in diesen Tagen auf sein zweites Neujahrsfest in diesem Jahr vor: In der Nacht zum 14. Januar wird das „alte Neujahr“ gefeiert, da die russisch-orthodoxe Kirche bis heute dem julianischen Kalender folgt, der der bei uns üblichen Zeitrechnung um 13 Tage hinterherhinkt.
Das „alte Neujahr“ in Russland ist ein willkommener Anlass, die Gläser zu füllen und diverse Orakel nach den Aussichten für das kommende Jahr zu befragen. Gefeiert wird mittags im Büro, abends meist im Familienkreis: Reichlich Wodka und „Sakuski“, eine üppige Auswahl an kalten Vorspeisen wie Rote-Beete-Salat mit Hering, eingelegten Salzgurken oder Sauerkraut mit Moosbeeren – Klassiker eines typisch russischen Festmahls. Ein spezielles „altes Neujahrsmenü“ gibt es nicht, auch gehört „Sowjetskoje Schampanskoje“, wie der Dauerbrenner unter den Sektmarken bis heute heißt, am 13. Januar nicht obligatorisch dazu. Getrunken wird, was auf den Tisch kommt.
Das „alte Neujahr“ fällt genau in die Zeit der „Swjatki“. Diese „Heiligen Tage“, die vom orthodoxen Weihnachtsfest (7. Januar) bis zum Dreikönigsfest (19. Januar) dauern, gelten traditionell als die beste Zeit zu Orakeln. In fast allen Klassikern der Weltliteratur wie etwa „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin werden diese Tage als sehr ausgelassene Periode beschrieben: Das Volk rodelte, tanzte und vergnügte sich während der „Heiligen Tage“, dabei blieben auch viele heidnische Bräuche erhalten. Junge Mädchen rätselten wie ihr Auserwählter wohl sein mag und Bauern befragten das Orakel nach der kommenden Ernte. Im alten Russland glaubte man früher zudem oft, dass sich in dieser Zeit das Wasser in den Flüssen in Wein verwandle und dass Tiere untereinander mit menschlicher Stimme sprechen.
An Orakel, Wunder und versteckte Zeichen glauben längst nicht nur alte Leute. Nadja Bakibajewa, eine 25-jährige Vertriebsmanagerin aus Moskau, setzt sich beispielsweise zum Orakeln mit ihren Freundinnen zusammen, um mehr über ihren künftigen Bräutigam zu erfahren. Dabei helfen ihr ein Ring, ein Haar und ein hohes Glas. „Der Ring wird am Haar aufgezogen und über das Glas gehalten, bis er zu pendeln beginnt“, erklärt die junge Frau. Wie oft das magische Pendel gegen die Glaswand schlägt, so viele Jahre wird es noch bis zur Hochzeit dauern. Nadja druckst ein wenig verlegen herum. „Naja, bei mir waren es 16 Mal“, flüstert sie. „Aber wir haben das Orakel dann gleich noch einmal befragt“, fügt sie schnell hinzu und lacht.
Woher der Bräutigam kommen wird, bestimmt hingegen ein anderer Aberglaube: Beim Ausziehen der Stiefel werden diese im Haus rückwärts über die Schulter geworfen. Aus der Richtung, in die die Stiefelspitzen zeigen, wird auch der Auserwählte kommen.
Meist wird während der „Heiligen Tage“ auf verschiedene Arten orakelt: Sehr verbreitet ist auch das Wahrsagen mit drei Gläsern, die mit Wasser gefüllt sind. In einem ist Zucker, im nächsten Salz, das dritte ist ohne Zusatz. Nach dem Glas gegriffen wird mit verbundenen Augen, entsprechend dem Geschmack des Wassers, wird das kommende Jahr: süss, salzig oder neutral. Je mehr Orakel, desto mehr Optionen, wie das Jahr wohl werden mag.
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Veronika Wengert