Russland

Urbi et orbi auf Russisch

Empört nickt Anja mit dem Kopf. Fast ein wenig bestürzt wirkt sie auf die Frage. Natürlich sei sie gläubig, sagt die 26-jährige Moskauerin, die gerade im Flieger nach Frankfurt sitzt, um ihren deutschen „boyfriend“ zu besuchen. Nach einem kurzen Zögern fügt sie allerdings hinzu, das sie nur selten in die Kirche gehe. Eigentlich fast nie. Der stressige Job in der Marketing-Branche, die Freunde und eben der „boyfriend“ in der Ferne, den sie während ihres Türkei-Urlaubs kennen gelernt habe – Zeit für den Kirchengang bliebe da keine, obwohl sie die goldenen Ikonen und die vielen brennenden Kerzen sehr möge. Dennoch gäbe es Gott in ihrem Leben und sie sei überzeugte orthodoxe Christin, betont Anja und klingt nun fast ein bisschen trotzig.

Die Einstellung der jungen Russin ist typisch für die neue russische Gesellschaft: In einer aktuellen Umfrage des russischen Meinungsforschungsinstituts „Romir“ bekennen sich 80 Prozent von 1 500 Befragten im ganzen Land zum religiösen Glauben. Eine überraschend hohe Zahl, wenn man bedenkt, dass sich während der Perestrojka Ende der achtziger Jahre noch neun von zehn Russen als Atheisten bezeichnet hatten. Prominentester Vertreter des neuen russischen Glaubensbekenntnisses ist Wladimir Putin. Der einstige KGB-Offizier im sächsischen Dresden ist zum begeisterten Kirchgänger mutiert. Im Sommerurlaub wallfahrtet er zu Klöstern auf den Solowezki-Inseln im hohen Norden Russlands. Und an hohen Feiertagen wie Ostern oder jetzt zum orthodoxen Weihnachtsfest sieht man ihn Seite an Seite mit dem Moskauer Patriarchen in der mächtigen Christus-Erlöser-Kathedrale sitzen, die von Stalin abgerissen und erst unter Jelzin wieder aufgebaut worden ist. Im Kommunismus noch undenkbar: Die Festgottesdienste werden über die staatliche Kanäle ins ganze Land übertragen.

Die russisch-orthodoxe Kirche scheint anstelle des verordneten Kommunismus zum neuen Amalgam zu werden, das die russische Gesellschaft zusammenhält. Doch Experten unterscheiden zwischen Gläubigen und religiös praktizierenden Christen: Höchstens jeder fünfte Russe lebe seinen Glauben auch aktiv, wobei nur rund drei Prozent den sonntäglichen Kirchgang und die regelmäßige Beichte entsprechend den christlichen Geboten einhalten würden.

Die aktuelle Umfrage belegt die Zweifel der Experten, vor allem in punkto Einstellung der Russen zum Gebet: So suchen 37 Prozent der befragten Gläubigen niemals das Zwiegespräch mit Gott, jeder Fünfte findet seltener als einmal pro Monat Zeit und Gelegenheit dazu und nur genauso viele Menschen sind es, die täglich Beten. Das christliche Ritual muss jedoch differenziert betrachtet werden: Am häufigsten beten Frauen und Senioren beiderlei Geschlechts, am seltensten Jugendliche und Männer.

Nicht immer geht der neu entdeckte Glauben mit der christlichen Doktrin einher. Häufig ist im postsowjetischen Russland eine Säkularisierung der kirchlichen Praktiken zu beobachten: So werden heute die meisten neu erbauten Firmengebäude mit reichlich Weihwasser und Gebet von Priestern getauft, parallel dazu überreichen Frauen in Folklore-Trachten dem Hausherren Brot und Salz – hier verquicken sich christlicher und heidnischer Brauch, ohne das sich jemand daran stören würde. Das solche Rituale zudem die Kassen der Priester klingeln lassen, ist längst kein Geheimnis mehr und wurde sogar vom Moskauer Kirchenoberhaupt, dem Metropoliten Alexej II., bereits mehrfach gerügt.

Experten sehen die Ursache für das fehlende tiefere Verständnis der christlichen Lehre nicht nur in der atheistischen Propaganda, der die Menschen in der Sowjetunion ausgesetzt waren. Vielmehr sei auch die Isolierung von den Weltkirchen und die mangelnde Ausbildungsqualität der Priester schuld daran, dass heute jeder seinen eigenen Glauben praktiziere.

Nach dem Ende des Kommunismus hat die Orthodoxe Kirche in Russland rasch an Boden gewonnen: Zweckentfremdete Sakralbauten, die oft als Kulturhaus, Lagerhalle oder Museum dienten, wurden wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung übergeben, Klöster wurden mit großzügigen Spendengeldern restauriert. Die imposante Christus-Erlöser-Kirche, unweit des Moskauer Kreml, an deren Stelle jahrelang ein Schwimmbad gestanden hatte, zieht heute an den höchsten kirchlichen Feiertagen mehrere zehntausend Menschen an. Wer die Weihnachts- oder Oster-Lithurgie aus Blickweite erleben möchte, muss sich oft schon Stunden zuvor einen Platz sichern.

Im Zuge der wieder gewonnenen Glaubensfreiheit sprachen Theologen Anfang der neunziger Jahre von einem „religiösen Boom“, der alle Bevölkerungsschichten erfasst hatte. Erst mit einem strengeren Religionsgesetz und einer erschwerten Registrierung von Konfessionsgemeinschaften und Sekten, besannen sich die Russen zunehmend auf ihre „Staatsreligion“, die Orthodoxie oder Rechtgläubigkeit (das slawische Wort „prawoslawno“ bedeutet „richtig gefeiert“, im Sinne, dass der Gottesdienst nur von der Orthodoxen Kirche in der einzig wahren Form abgehalten wird).

Den rechten Glauben hatte den Ostslawen 988 der Kiewer Großfürst Wladimir beschert, nachdem er seine Beobachter in mehrere Länder ausgesandt hatte, um die beste Religion für sein Reich zu finden. In den Annalen beschreibt der Mönch Nestor die „Taufe der Kiewer Rus`“ sehr plastisch: Der Herrscher sei von dem Prunk der Orthodoxen Kirche so beeindruckt gewesen, dass er diesen Glauben für sich und sein Volk gewählt habe. Bis heute hat dieser Pomp, der sich in goldüberzogenen Zwiebeltürmchen, meterhohen Ikonostas-Wänden und weihrauchgetränkten stundenlangen Lithurgie-Feiern ausdrückt, wohl kaum etwas an seiner Faszination eingebüßt. So wie auch Anja betont, dass sie den Kirchgang vor allem wegen der Ikonen und der zahlreichen Kerzen mag, die jedes noch so kleine Gotteshaus in der Provinz in ein warmes Licht tauchen.

Beim russischen Präsidenten jedoch steckt angeblich mehr hinter der neuen Religiosität, als die Sehnsucht nach goldenen Kandelabern oder politische Berechnung. Von seinem Beichtvater Archimandrit Tichon ist überliefert, dass Wladimir Putin im Jahre 1996 den Glauben entdeckte, als er seine beiden Töchter aus seiner brennenden Datscha retten konnte. In den verkohlten Überresten des Sommersitzes bei St. Petersburg habe er seinerzeit ein geweihtes orthodoxes Kreuz gefunden.


*** ENDE*** 

Veronika Wengert


Weitere Artikel