Russland

Spielregeln der Gewalt


von Tino Künzel, Moskau (Tel: 03722/501315, Mail: hi.tino@rambler.ru)

Moskau (n-ost). Der alltägliche Terror trägt Uniform. In der russischen Armee, die sich den Kampf gegen Terroristen auf ihre Fahnen geschrieben hat, werden jüngere Soldaten systematisch durch ihre Vorgesetzten terrorisiert. „Hunderttausende“ seien jedes Jahr davon betroffen, zahlreiche Opfer zu beklagen, steht in der ersten umfassenden Studie zu den Misshandlungen in den eigenen Reihen. Den 86-Seiten-Bericht hat die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ vorgelegt. Im Ergebnis ihrer dreijährigen Untersuchungen kommt sie zu dem Schluss, Ausmaß und Charakter der Schikane seien weltweit ohne Gleichen, gingen weit über geschmacklose Gruppenrituale und Einzelfälle körperlicher und seelischer Willkür gegen Rekruten hinaus. Exzesse der Gewalt waren zuletzt auch aus Ausbildungskasernen der deutschen Bundeswehr bekannt geworden. Hierzulande lösen einen Aufschrei der Empörung aus, in Russland hat die Quälerei der untersten Chargen Tradition.

Mischa P. hatte Glück und hat den Ausbildungsterror überlebt. Seine Eltern entführten ihn, um ihm das Leben zu retten. Zu dem Zeitpunkt lag er mit Wasser in der Lunge, Gastritis und einer kranken Prostata im Lazarett, ohne wirklich behandelt zu werden. Dafür fehlten die Medikamente. Am Telefon japste der junge Mann nur noch, seine Eltern setzten sich verängstigt ins Auto und fuhren 1500 Kilometer Richtung Südrussland, um ihren Sohn über den Zaun zu hieven und nach Hause mitzunehmen. Das war am 26. September. Erst Wochen später konnte Mischa wieder halbwegs normal reden. Bis heute plagen ihn Kopfschmerzen, er kann kaum länger als ein paar Minuten sitzen, stehen oder gehen. Das Auftreten schmerzt, der Abiturient, drei Tage nach seinem Schulabschluss eingezogen, hinkt. Seine Mutter Natalja seufzt: „Was das wohl wieder ist? Er erzählt ja nichts!“ Und dann, mit tränenerstickter Stimmen: „Ich habe ihn der Armee gesund abgegeben. Schauen Sie doch, in welchem Zustand er zurückgekommen ist!“
Mischa wollte zur Armee, wollte nicht als Drückeberger gelten. Dabei hatte er von den rauen Sitten gehört: „Aber dass es so schlimm ist, konnte ich mir nicht vorstellen.“ Mischa musste so manche Nachtschicht kniend auf den Stuhlbeinen eines umgedrehten Schemels verbringen. Wenn er seine Gasmaske nicht schnell genug anlegte, zogen die Älteren den Schlauch in die Länge und ließen ihn mit voller Wucht zurückschnappen. So verlor Mischa einen Vorderzahn. In der Kaserne wurde ihm und seinesgleichen je nach Gutdünken der Gang zur Toilette verwehrt. Nachts holte man sie aus den Betten, ließ sie antreten und für irgendwelche „Vergehen“ büßen. Nach Mischas Flucht gerade zu Hause angekommen, klingelte ein Kurier an der Tür und überbrachte einen Urlaubsschein. Bahntickets für hin und zurück lagen bei. Ein Angebot des Stillschweigens. Doch für Mischa ist klar: „Da fahre ich nie wieder hin.“

Schon zu Sowjetzeiten wurden die Zustände in den gigantischen Truppen der Roten Armee mit Stillschweigen übergangen. Ein ideologischer Überbau für die Quälereien in Russland trägt einen Namen: „Dedowschtschina“, zu Deutsch „das Gesetz der Großväter“. „Dedy“ bezeichnet im Jargon Wehrpflichtige des zweiten und damit letzten Jahres. Sie sind „berechtigt“, den jüngeren Jahrgang auszunutzen, zu bestrafen, zu erniedrigen und zu entwürdigen. Neuankömmlingen werden so eigene Demütigungen heimgezahlt. Ein ewiger Kreislauf, der nach Angaben von „Human Rights Watch“ Jahr für Jahr Dutzende Soldaten das Leben kostet. Die Zahl der Selbstmorde oder Selbstmordversuche ginge in die Hunderte. Tausende nähmen – oft dauerhaft – Schaden an Leib und Seele. Weitere Tausende desertierten, häufig mit der Waffe in der Hand und traumatisiert genug, sie gegen echte oder vermeintliche Verfolger einzusetzen, was regelmäßig noch mehr Unheil anrichte.

Am besten fährt mit dem Status quo, wer ihn akzeptiert, sich nicht wehrt, nur heimlich die Fäuste ballt und Trost darin findet, binnen eines Jahres die Seiten zu wechseln. Diejenigen, die das System als Ausgeburt von Sadismus ablehnen und sich nicht brechen lassen wollen, leiden um so mehr daran. Auf Solidarität der übrigen Gepeinigten brauchen sie nicht zu hoffen. Kollektivstrafen für die Renitenz Einzelner isolieren die „schwarzen Schafe“ sogar in den Reihen der Opfer. Und Beschwerden bei den Vorgesetzten richten sich gegen sie selbst. Mischa meint: „Davon kriegen die ,Dedy‘ sowieso Wind, und dann bezahlst du dafür.“ So halten die Rekruten in der Regel den Mund und die Kommandeure widerwärtige Praktiken in ihrem Verantwortungsbereich unter der Decke.

Die russischen Medien ignorieren die brutalen Zustände in der Armee. Während der „Perestrojka“ kamen sie wie viele Missstände im Lande in die Schlagzeilen. Doch nun seit Jahren nun wird kollektiv geschwiegen. Die nun veröffentlichte Dokumentation von „Human Rights Watch“ nötigte den Verantwortlichen gerade mal einen knappen Kommentar ab. Das Verteidigungsministerium ließ verlauten, „von 2002 bis 2004“ seien „90 Prozent der Soldaten“ mit „Dedowschtschina“ überhaupt nicht in Berührung gekommen. Es handele sich also „um keine Massenerscheinung“, titelte die staatstreue „Iswestija“ prompt.

Für Natalja Schukowa vom Komitee der Soldatenmütter in Nischnij Nowgorod an der Wolga ist das nichts als Ignoranz: „Umgekehrt wird ein Schuh draus. 90 Prozent sind betroffen. Die Behauptung, die Armee habe sich gewandelt, entbehrt jeder Grundlage.“ Diederik Lohmann, Autor des brisanten Reports, kann sich die offiziellen Zahlen nur so erklären: „Wir gehen davon aus, dass 95 Prozent der Fälle gar nicht erst registriert werden.“ Warum aber hat das Problem gerade in Russland so tiefe Wurzeln geschlagen? „Wie das Volk, so die Armee“, zitiert „Human Rights Watch“ den Standardkommentar der Befragten. Die Gesellschaft ist nach wie vor davon geprägt, dass der Stärkere den Schwächeren seine Überlegenheit auch spüren lässt: der Autofahrer den Fußgänger, der Beamte den Antragsteller, der Neureiche den Rentner. Die Armee als Staat im Staate, der sich normalen Regulativen entzieht, steigert dieses Muster dann ins Extreme.

Einen Nährboden für „Dedowschtschina“ liefern aber auch konkrete Bedingungen in den Kasernen. Schukowa war bei einem Besuch in Deutschland besonders beeindruckt von den Mehrbettzimmern und fotografierte sogar die Bilder an der Wand, weil der Kontrast zu den russischen Gemeinschaftsunterkünften kaum größer sein könnte: „Die riesigen Schlafsäle für 150 Leute sind allein schon schlimm. Unsere Soldaten besitzen rein gar keine Privatsphäre, nichts Persönliches mehr.“ Die Mehrzahl der Offiziere verschließe vor den Perversionen der Hierarchie in ihren Einheiten die Augen oder betrachte sie sogar wohlwollend als Ordnungsfaktor. Dabei widerspricht „Dedowschtschina“ nicht nur jeglicher Menschlichkeit, sondern auch dem Ehrenkodex der Armee. Doch die meisten der rund 350 000 Rekruten der russischen Armee begreifen schnell, dass nicht die geschriebenen „Spielregeln“ ihr Auskommen bestimmen, sondern die ungeschriebenen.

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Tino Künzel


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