Gläserne Wahlurnen in der Ukraine
Es war vermutlich die international am schärfsten kontrollierte Präsidentenwahl, die je in einem Land stattgefunden hat: 33.000 Wahllokale standen den rund 35 Millionen wahlberechtigten Ukrainern bei der Neuauflage der Präsidentenwahl zur Verfügung. Diese wurden von einem Heer von 12.500 Vertretern verschiedenster internationaler Organisationen kontrolliert. Rein rechnerisch hatte also ein internationaler Beobachter drei Wahllokale zu betreuen. Allein die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) entsandte 1000 Wahlbeobachter. Zusätzlich verfügte das neue ukrainische Wahlgesetz, dass alle Wahlkommissionen paritätisch mit Anhängern beider Kandidaten zu besetzen waren. Und als Krönung der neuen Transparenz im Lande wurden am Sonntag auch noch durchsichtige Wahlurnen verwendet.
Dennoch tauchten unmittelbar nach Schließung der Wahllokale erneut Fälschungsvorwürfe auf. Wiktor Janukowitsch, der nach Auszählung von über 98 Prozent der Stimmen dem Anführer der Orangen-Revolution, Wiktor Juschtschenko, mit 43,9 zu 52,3 Prozent unterlegen war, sprach von 550 Fällen von Wahlfälschung und drei Millionen Stimmen, um die er betrogen worden sei. Janukowitsch kündigte Klage vor dem höchsten Gericht an. Tatsächlich verlief auch die Wiederholung der Stichwahl nicht völlig reibungslos, wie Berichte von Wahlbeobachtern zeigen.
Der Berliner Witold Gnauck war einer von 110 deutschen Wahlbeobachtern in Diensten der OSZE. Der Mitarbeiter der Robert-Bosch-Stiftung spricht fließend Polnisch und Russisch und beschäftigt sich seit Jahren mit Osteuropa. Als Mitte Dezember deutsche Beobachter für die Wahl gesucht wurden, tauschte er kurz entschlossen die Aussicht auf friedliche Weihnachten im trauten Familienkreis gegen ein Flugticket ins Ungewisse ein. „Wann hat man schon einmal die Gelegenheit, dabei zu sein, wenn Geschichte gemacht wird“, begründet dies der 34-Jährige. Am 22. Dezember kam er mit der deutschen Delegation gegen Mitternacht in Kiew an, ohne zu wissen, an welchem Ort er eingesetzt werden würde. Nach einer kurzen OSZE-Schulung stand dann der Bestimmungsort Dnipropetrowsk fest, eine Industriestadt am Fluss Dnjepr im Südosten des Landes. „In den Wahlbezirken dieser Region hatte Janukowitsch im zweiten Wahlgang offiziell sechzig bis über siebzig Prozent der Stimmen erhalten“, berichtet der Berliner.
„Am Wahltag mussten wir ausländischen Beobachter in Zweierteams zusammen mit je einem Dolmetscher jeweils etwa zehn Wahllokale besuchen, um mit den Wahlkommissionen, einheimischen Beobachtern und Wählern Gespräche zu führen“, beschreibt Gnauck seine Aufgabe. Ein Fragenkatalog sollte klären, ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist „Haben Sie alle Wahlunterlagen erhalten? Wieviele Namen stehen auf Ihrer Wählerliste? Wurden Wähler zurückgewiesen, weil ihre Namen auf der Liste nicht verzeichnet waren?“
„Eines wird schon nach wenigen Gesprächen deutlich: Die ukrainischen Wahlgremien und Parteien haben in den letzten drei Wochen Ungeheures geleistet“, lobt Gnauck. Nach der Änderung des Wahlgesetzes müssen alle Wahlkommissionen paritätisch mit Anhängern der beiden Kandidaten besetzt sein. Zwar sei nicht immer deutlich geworden, wie die Vertreter der Parteien ausgewählt wurden. „Aber im Wahlbezirk östlich von Dnipropetrowsk sind tatsächlich in fast jedem Wahllokal ein oder zwei Personen aus dem orangenen Westen anzutreffen, die gut fünfhundert Kilometer gefahren sind, um in den Wahlkommissionen der blauen Gebiete mitzuarbeiten“, hat Gnauck herausgefunden.
Dies bestätigt Lyudmyla Yurashko, die in der zentralukrainischen Stadt Poltawa als Wahlbeobachterin eingesetzt war. „Außer zwölf Mitgliedern der Wahlkommission gab es bei uns im Wahlrevier Nr. 45 insgesamt acht externe Beobachter: drei aus dem Stab Juschtschenkos, vier Anhänger Janukowitschs, sowie einen Journalisten. Ein Vertreter Janukowitschs ist extra aus der ostukrainischen Stadt Donezk angereist.“ Während die Juschtschenko-Vertreter freiwillig ins Wahllokal gekommen seien, hätten die Janukowitsch-Vertreter 189 Hryvnia (25 Euro) für ihre Arbeit erhalten.
Abgesehen von kleineren Drohungen und gelegentlichen Streitereien über die Gültigkeit der einen oder anderen Stimme, berichten sowohl der Deutsche als auch die Ukrainerin von einem zentralen Problem der Wahl: Nach den massiven Fälschungen der ersten beiden Wahlgänge durch Wahltourismus wurde das Recht zum Wählen außerhalb des Wahllokals stark eingeschränkt. Noch am Vortag der Wahl wies das Oberste Gericht jedoch Teile der Reform zurück und erlaubte auch Personen mit nur leichten Erkrankungen die Stimmabgabe außerhalb der Wahllokale. Dies sei für viele zu spät gekommen, da Erkrankungen mit einer Bescheinigung der Gesundheitsbehörden zu belegen waren, kritisiert Gnauck. „Viele durften wegen fehlender Papiere nicht mehr wählen. Insbesondere die Janukowitsch-Anhänger sehen sich um einen hohen Prozentsatz von Stimmen der älteren und gesundheitlich angeschlagenen Wähler betrogen.“
Dennoch kam die OSZE am Montagnachmittag in Kiew insgesamt zu dem Schluss, dass die Wahl fair abgelaufen sei. Dies bestätigte überraschend auch der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission der Russischen Föderation Alexander Weschnjakow in Moskau und nahm damit den Ankündigungen Wiktor Janukowitschs, die Wahl anfechten zu wollen, frühzeitig den Wind aus den Segeln. Russland war in den vergangenen Monaten noch Janukowitschs stärkste Stütze gewesen.