Ein Dichter wird Präsident
Von Andreas Metz (E-Mail: amadmetz@gmx.de, Tel. 0160/9985 47 48)
Prag (n-ost). Wenn der Augenzeuge doch nur reden könnte, diese Geschichte wäre schnell aufgeschrieben. Seit 1913 reitet der heilige Wenzel im Herzen von Prag auf seinem Pferd den nach ihm benannten Platz „václavské námesti“ ab, ohne dessen Ende jemals zu erreichen. Direkt zu Füßen des Denkmals wird traditionell tschechische Geschichte gemacht: 1918 erfolgte hier die Ausrufung der unabhängigen Tschechoslowakei, 1939 rollten die Panzer der Nazis auf diesen Platz, 1968 dann die Panzer der Warschauer Pakt-Staaten, die den Prager Frühling überrollten. 1969 verbrannte sich zu Füßen des Heiligen Wenzel der Student Jan Palach aus Protest gegen den kommunistischen Machtapparat. 1989, eine Generation später, waren es wiederum Studenten, die die Nation aus ihrer Erstarrung weckten und zu Tausenden auf dem Platz demonstrierten. Auf ihren Schultern trugen sie einen Namensvetter des heiligen Wenzel, den Dichter Vaclav Havel.
Am 29. Dezember 1989, vor genau 15 Jahren, wurde dieser kleine, dickliche Mann, offiziell zum Präsidenten der Tschechoslowakei ausgerufen. Die „samtene Revolution“ erreichte damit ihren Höhepunkt. Seine Ernennungsurkunde erhielt der Tscheche Havel aus den Händen des Slowaken Alexander Dubcek, des Mannes also, der 1968 den von Moskau verordneten Sozialismus vergeblich „mit einem menschlichen Antlitz“ zu versehen suchte. Am 29. Dezember 1989 feierte der aufrechte Gang über Anpassung und Resignation einen leisen Sieg. Der Tag sah die wundersame Vollendung von Havels „Versuch in der Wahrheit zu leben“, wie er einen seiner Essays überschrieben hat.
Schon 1968 gehörte Havel zu denjenigen, die Dubcek angesichts des sowjetischen Drucks zum Durchhalten ermutigten. „Die Menschen würden begreifen, dass man seine Ideale und sein Rückgrat immer bewahren kann; dass man der Lüge entgegen treten kann“, schreibe Havel damals an Dubcek. Doch die Kanonenrohre sowjetischer Panzer ließen damals keine Wahl. Millionen Tschechen und Slowaken resignierten, emigrierten, stellten sich tot, spielten das Spiel der Kommunisten mit. Havel hingegen blieb sich treu und bezahlte dafür mit 54 Monaten Gefängnis, Hausarrest und ständiger Überwachung.
Starrsinn? Heldentum? Selbst als man ihm im Gefängnis das Schreibpapier entzog, ihm nur einen Brief pro Woche an seine Frau gewährte (später erschienen in dem Sammelband „Briefe an Olga“), selbst dann äußerte Havel keinen Hass. Gerne wird von ihm die Anekdote berichtet, wie er einmal mit dem eigenen PKW das Auto seiner Bewacher von der Staatssicherheit aus dem Straßengraben zog, in den sie bei ihrer Verfolgungsfahrt geraten waren. Gewaltlosigkeit und Dialogbereitschaft – damit verstörte Havel das Regime. Bis 1989 blieben seine Theaterstücke verboten, weil sie so absurd wie der kommunistische Alltag waren. In Deutschland veröffentlicht und gefeiert, zirkulierten seine Texte im Inland als illegal vervielfältigte Samisdat-Ausgaben.
Welche Macht das geschriebene Wort entfalten kann, keiner hat es besser bewiesen als der Dichter Havel. Die Charta 77, ein Appell für Menschenrechte, ist ebenso mit seinem Namen verbunden wie „Ein paar Sätze“ für Demokratie, die Havel im Sommer 1989 mitformulierte und die 40 000 Tschechen und Slowaken unterschrieben.
Am 16. Januar 1989 wurde Havel ein letztes Mal vom kommunistischen Regime verhaftet, natürlich auf dem Wenzelsplatz. Doch Studenten und Künstler sammelten 3 800 Unterschriften für seine Freilassung und holten den so lange in der Masse der Teilnahmslosen Isolierten an die Spitze ihrer anschwellenden Bewegung. Doch erst als die Berliner Mauer fällt, vertrauen genug Menschen ihrer Kraft. Am 17. November 1989 demonstrieren 50 000 auf dem Wenzelsplatz für Demokratie und freie Wahlen. Ein letztes Mal greift der Staat brutal durch. Doch die Demokratiebewegung ist nicht mehr zu stoppen.
In Prag ist es Havel, der in der Laterna magica, einem Theater unweit des Wenzelsplatzes, das Bürgerforum um sich sammelt. In der Slowakei steht Aleksander Dubcek an der Spitze der Bewegung. Nach vier langen Wochen willigen die Kommunisten in einen Runden Tisch und in ihre eigene Entmachtung ein. Der Staatsfeind Nummer eins wird Präsident.
Dies blieb Havel abgesehen von einer kurzen Unterbrechung bis zum Jahre 2003. Das Land, das er regierte, spaltete sich in dieser Zeit. Tschechen und Slowaken gingen eigene Wege, was niemand mehr bedauert hat als der Prager Poet. Der blieb seinen Landsleuten unbequem, blieb das „moralische Gewissen“ seines Landes und rieb sich mit seiner Philosophie an den Zwängen der Realpolitik.
Dass die schmerzhafte Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Tschechien nie wirklich in Gang kam, konnte auch Havel nicht verhindern. Die Kommunistische Partei Tschechiens ist längst wieder in die Mitte der Gesellschaft gerückt, als einzige im ehemaligen Ostblock blieb sie sogar ihrem alten Namen treu.
„Wahrheit und Liebe werden Lüge und Hass beseitigen“ - das von Havel geprägte Motto der „Samtenen Revolution“ hat sich noch nicht erfüllt. Dass die Sehnsucht danach in Tschechien immer noch groß ist, zeigte sich Mitte November, als in der Prager Karls-Universität anlässlich einer großen Podiumsdiskussion dem nun 68-jährigen Vaclav Havel ein überwältigender Empfang bereitet wurde.
Über seine Theaterstücke hat Havel einmal gesagt, dass ein Autor keine Lösung finden könne, allenfalls eine Annäherung ; wie es auch im Leben allein wichtig sei, sich auf ein Ziel zuzubewegen. So sind sie denn weiterhin unterwegs, die Tschechen, Havel und sein stummer Namensvetter hoch droben auf seinem Pferd im Herzen von Prag.
*** Ende ***