Bulgarien

Zwischen Nostalgie und Abscheu

Einige Kilometer vom Zentrum Sofias entfernt am Fuße des Vitosha-Gebirges befindet sich Simeonovo. Neureiche, Politiker und Stars  haben sich nach der Wende in diesem ehemaligen Dorf ihr eigenes eklektizistisches Wonderland geschaffen: riesige, dreigeschossige Häuser in opulentem Neo-Barock, umgeben von burgähnlichen Befestigungsanlagen, daneben luxuriöse Hotels und Privatkliniken, die 24-Stunden-Service gegen das entsprechende Bargeld bieten. Auch die gemeinschaftlichen Wohnparks, hinter deren Mauern man unter den Augen von Wachpersonal und Kameras mit  Gleichgesinnten lebt, erfreuen sich großer Beliebtheit. In Simeonovo fährt  man mit dem Jeep ins Café und zum Einkaufen in so genannte „Showrooms“, die  allerlei luxuriöse Waren anbieten. Man leistet sich Hausangestellte und  lässt Privatlehrer kommen, die den Nachwuchs in westlichen Fremdsprachen unterrichten.

Während manche Intellektuelle monieren, dass es den Bewohnern an Kultur  mangle, übersehen sie, worin die eigentliche „Leistung“ der neuen,  kapitalistischen Elite besteht: Sie hat sich der Geschichte entledigt. Warum sich mit Vergangenem rumplagen, wenn die Gegenwart so schön ist! „Sega mi se zhivee“: „Ich will JETZT leben“ in den Worten der Pop-Folk-Sängerin Kati.

Diejenigen, die nicht auf der Gewinnerseite der post-sozialistischen Umverteilung stehen, und das sind die meisten Bulgaren, sehen das ein  bisschen anders. Sie blicken fragend zurück und setzen eine Aufarbeitung in Gang, die in Bulgarien jahrelang verschleppt wurde. So zum Beispiel die Journalistin Diana Ivanova. „Niemand von uns hat erwartet, dass der  Sozialismus so lange bleibt, dass das Neue nicht kommt“, sagt sie. Ende  1989, also vor genau 15 Jahren, entledigten sich auch die Bulgaren ihrer  staatskommunistischen Führung und brachen ins Zeitalter der Demokratie und  der Marktwirtschaft auf. Im November wurde der greise Staatsführer Todor  Zhivkov in einer Art Palastrevolution abgesetzt. Im Dezember fiel dann unter dem Druck anhaltender Demonstrationen das Machtmonopol der Kommunistischen Partei. Doch abseits der ritualisierten Feierlichkeiten findet wenig Auseinandersetzung mit der sozialistischen Vergangenheit statt. Über die Offenlegung der Dossiers des kommunistischen Geheimdienstes etwa spricht heute kaum jemand mehr.

„Man bezeichnet normalerweise als Sozialismus nur das, wenn du in der  Brigade warst, wenn du etwas aus Pflicht gemacht hast, solche Sachen. Aber  alles andere gehört auch dazu, was wir getrunken haben, was man gegessen  hat. Man hatte keine Coca Cola, sondern nur Altai. Das ist auch ein Zeichen  der Zeit“, so Diana Ivanova. Da es in der Öffentlichkeit keinen Platz  gibt, über die eigenen Erinnerungen zu sprechen, sei der Sozialismus in den  Köpfen der Menschen geblieben.

Um den schablonenhaften Vergangenheitsbildern etwas entgegenzusetzen, hat  Ivanova gemeinsam mit dem Schriftsteller Georgi Gospodinov, dem  Psychotherapeuten Rumen Petrov und dem Journalisten Kalin Manolov das  Projekt „Spomeniteni“, übersetzt „Unsere Erinnerungen“, gegründet. Der Kern  des Projekts, ein Internetportal, auf dem man seine persönliche Geschichte des Sozialismus veröffentlichen kann, erfreut sich auch nach einem halben Jahr Laufzeit noch großer Beliebtheit. Die Beiträge pendeln zwischen Nostalgie und Abscheu. Pro Woche werden drei neue Stories freigeschaltet,  über 250 befinden sich bereits im Archiv. Teilnehmen kann jeder,  vorausgesetzt man gibt Name und Adresse an.

Ivanova ist überzeugt, dass die realsozialistische Periode nur dann anders  gesehen werden kann, wenn man auch die kleinen Dinge, den Alltag betrachtet. „Der Sozialismus hat sich immer nur um das große Bild gekümmert. Die große Geschichte, die uns erwartet. Aber nicht um das Intime, wie der einzelne Mensch etwas erlebt hat.“

Auf der Website kann man dann auch Interessantes darüber erfahren, wie der  Sozialismus roch oder wie er sich anfühlte. Für den 72-jährigen Rentner  Angel K. geht es vor allem um die Wurst: „Wir hatten alles – sowohl Salami,  als auch Dauerwurst, sowohl Zucker, als auch Joghurt. Alles hatten wir. Ihr  Jungen neigt dazu die Fakten zu verdrehen Aber eigentlich war es mit dem  Genossen Zhivkov gar nicht so schlecht. Jetzt wollt ihr ins Ausland gehen,  um dort herumzuhängen. Aber in Wirklichkeit ist die bulgarische Dauerwurst die beste.“ Eine 50-jährige Frau schreibt in ihrer Geschichte mit dem Titel  „Namen“: „Wir sind drei Schwestern. Die Älteste heißt Kampf. Die Mittlere  Sieg. Die Jüngste heißt Glaube. Ein schrecklicher Beweis dafür, dass wir  während des Sozialismus geboren sind.“

Der Schriftsteller Georgi Gospodinov war vielleicht der Erste, der in der  bulgarischen Literatur „andere“ Geschichten über die realsozialistische Ära publiziert hat. Sein in mehrere Sprachen übersetztes Buch „Estestven Roman“  („Spontaner Roman“) ist ein Versuch, den sozialistischen Alltag zu  protokollieren, ein Sammelsurium von Anekdoten, Szenen und Erinnerungen an  die eigene Kindheit. „Die große Zeit der Empirie“: Ein alter Mann erklärt  dem jungen Gospodinov in einer zum Museum umgewandelten Kathedrale, dass  Gott wie die Elektrizität sei – er existiere, aber man sehe ihn nicht, er  fließe und zeige sich in allem. „Immer wenn ich zu Hause die Lampe oder den  Herd einschaltete, musste ich daran denken. Gott leuchtete und brannte“,  schreibt Gospodinov.

Der Narrativ in der ersten Person überwiegt, auch auf der Website von  „Unsere Erinnerungen“. Erst mal sei es ausreichend, „Ich“ sagen zu können,  ist Ivanova überzeugt. „Wer kann ,wir’ sagen über den Sozialismus? ,Wir’  sagen nur die Leute, die nie einzeln gefühlt haben oder sich nicht erlaubt  haben, so zu fühlen.“ Die Leute sollen Teilnehmer werden und eine „Kultur des Erzählens“ wolle man etablieren, so die Initiatoren. In der  Halböffentlichkeit des Internets könne jeder seine persönliche Geschichte  erzählen, ohne sich schlecht fühlen zu müssen. Und mehr wolle man eigentlich nicht. „Das Projekt kann helfen, die Vielfalt zu sehen. Sozialismus ist kein fixiertes Bild. Es gab viele fließende Rollen.“

Dass es in Bulgarien noch viel aufzuarbeiten gibt und wie wichtig dies für  die Zukunft ist, zeigt exemplarisch die Geschichte des Ortes Simeonovo.  Bevor in den 90er Jahren die neuen Eliten begannen, sich in dem einstigen  Dorf am Berghang anzusiedeln, wohnte in Simeonovo bevorzugt die  kommunistische Nomenklatura. Vergangenheit und Gegenwart liegen eben doch  nur einen Katzensprung voneinander entfernt.


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