90 Minuten Weltkrieg
Moskau (n-ost). Bei allen Schlachten vergeht die meiste Zeit mit – Warten.
Gewartet wird auf den Marschbefehl, das Feuerkommando, den gegnerischen
Angriff. Oder, wie hier draußen, 50 Kilometer Luftlinie vom Kreml, auf das
Signal zum eigenen Einsatz im Remake eines der symbolträchtigsten Kapitel
des Zweiten Weltkriegs. 2 500 Mitwirkende gewinnen den Abwehrkampf vor
Moskau gegen die bis dahin in halb Europa unaufhaltsam vorgerückte deutsche Wehrmacht in stilisierter Form noch einmal. Drei Wochen lang haben die Soldaten der an diesem Ort stationierten Tamaner Division für die militärische Reality-Show auf Manövergelände geprobt. Nun stehen sie im Schneematsch und treten fröstelnd von einem Bein aufs andere.
Die Laiendarsteller waren schon angetreten, als am Dienstag die 1 000
Zuschauer auf der Tribüne nach und nach eintrafen, unter ihnen Präsident
Wladimir Putin, Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow, internationale
Diplomaten und 600 Kriegsveteranen. Inzwischen sind die Gesichter der Truppe gerötet von der feuchten Kälte. Wenigstens halten die historischen Uniformen leidlich warm. Am besten geschützt gegen „General Winter“ sind die Aufklärer in ihren weißen Tarnanzügen und mit Skiern, die „Panfilow-Division“ im Schafspelz, die Kavallerie auf geborgten Pferden der russischen Miliz, denen selbst Gefechtslärm nichts ausmacht, und die Panzergrenadiere im T-34, der selber ein Kriegsheld ist. Später wird er auf seinen alten Widersacher, den deutschen „Tiger“ treffen, der ihm in Sachen Beweglichkeit und Schusskraft ewig unterlegen war, ein Schlüsselfaktor für die Wende an der Ostfront.
90 Minuten dauert das Programm, inklusive Bühnenauftritten, Liedern, Reden. 50 Millionen Rubel wurden aus dem Stadtsäckel investiert. Der Fernsehsender „TW Zentr“ dreht sogar eine TV-Version fürs breite Publikum, das in der Naheinstellung allerdings erkennen dürfte: Die Originaltreue des Spektakels hat ihre Grenzen. „Für Stalin“ wie einst zieht keiner in den Kampf. Die Losungen auf den Bannern sind politisch korrekt.
Die eigentliche Schlacht findet auf einem Areal von über zwei
Quadratkilometern statt, auf dem Schützengräben ausgehoben, Häuserwände in
Brand gesetzt und mehr als hundert Fahrzeuge schwerer Technik verteilt sind. Der Großteil der Waffen stammt aus dem Fundus des Mosfilmstudios oder aus Restbeständen der Armee. Höhepunkt soll der Luftkampf zwischen einer „Jak“ und einer „Messerschmitt“ werden, was der bewölkte Himmel verhindert. Als das Inferno am Boden schließlich losbricht, sehen die Zuschauer zunächst vor Explosionen, Rauchpilzen und Qualm überhaupt nichts mehr. Es kracht und wummert, die Artillerie legt sich ins Zeug, die Infanterie echot mit Platzpatronen zurück.
Von den „Faschisten“ hat an diesem Nachmittag niemand etwas zu befürchten.
In Haufen stolpern sie vom Gefechtsfeld, die Arme erhoben und die Gesichter so angsterfüllt, als seien die Gewehrläufe ringsum tatsächlich scharf. Das entspricht nicht nur dem Drehbuch, sondern auch der Geschichte. Dass die Rote Armee Anfang Dezember 1941 zur Gegenoffensive überging, war ein Schock für die deutsche Generalität und für Hitler. Die sieggewohnte Heeresgruppe Mitte hatte drei Monate nach dem Überfall auf die Sowjetunion, am 30. September 1941, die Operation „Taifun“ entfesselt: den Vorstoß auf Moskau.
Doch der Widerstand wurde täglich erbitterter. Den Sowjets war es gelungen, ihre Befestigungen auszubauen und frische Divisionen aus Sibirien heranzuführen. Im November blieb der „Blitzkrieg“ endgültig in den Vororten stecken. Und dann musste die Wehrmacht erstmals seit Kriegsbeginn zurückweichen, 250 Kilometer insgesamt. Hitler tobte. Die Zahl der Opfer auf deutscher Seite erreichte ungekannte Ausmaße. 23 Infanterie-, elf Panzer- und vier motorisierte Divisionen erlitten so schwere Verluste, dass sie nicht mehr kampffähig waren. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit – dahin.
Alexander Iljin hat die Schlacht miterlebt und ist 1945 noch bis Schwerin
gekommen. Seine damaligen Empfindungen bezüglich der Deutschen? Der
84-Jährige, vom Leben gebeugt, richtet sich auf: „Wie sollen die schon
gewesen sein, nach all dem, was sie uns angetan haben? Aber heute, Söhnchen, weiß ich doch: Das sind Leute wie wir auch.“ Sagt’s und verschwindet in einem der aufgereihten Militärzelte. Dort wird Teilnehmern und Gästen der Großveranstaltung ein „Frontimbiss“ gereicht. Und die Veteranen stoßen mit Militärattachés westlicher Botschaften, darunter dem deutschem Stellvertreter Hubertus Graf von Strachwitz, an – auf die Freundschaft.
*** ENDE ***