Sibirische Kälte gegen Virus
Tomsk (n-ost). "Was weißt Du über Aids?”. Nikolaj Yussupow, 19 Jahre alt, Student der Agrarwissenschaften im zweiten Studienjahr, schaut erstaunt. "Keine Ahnung”, sagt er, "frag die Schwulen!” Nikolaj hat im Moment keine Freundin, aber er hofft, dass er schon heute hier in der Tomsker Disko Metro ein Mädchen kennen lernt. Auf die Frage, ob er ein Kondom dabei habe, schüttelt er ungläubig den Kopf: "So ein Quatsch, das brauch ich nicht, und die Mädchen wollen das auch nicht.”
Lilija Schalirowa von der sibirischen Aidshilfe ,,Sibir SPID pomotsch” ist wie jeden Samstag in den Tomsker Diskotheken unterwegs, um Jugendliche über HIV und Aids aufzuklären. "Das ist eine echte Ochsentour”, sagt die 25-Jährige, die seit über zwei Jahren Präventionsarbeit in Westsibirien macht. "Es ist erschreckend, dass die meisten Jugendlichen wie Nikolaj rein gar nichts über diese gefährliche Krankheit wissen. Für die meisten ist Aids eine Sache, um die sich nur Schwule Gedanken machen müssen.”
Fast ein Prozent der Russen und Ukrainer unter 20 Jahren sind mit HIV infiziert. Damit stehen die Länder an der traurigen Spitze in Europa. "In Tomsk sind es in dieser Altersgruppe mindestens zwei Prozent”, sagt Lilija Schalirowa. In der Universitätsstadt gibt es viele Drogenabhängige. "Viele benutzen die gleichen Heroin-Spritzen und übertragen so das Virus. Ein zusätzlicher Infektionsweg.”
Virus in allen Körperflüssigkeiten
Einmal in der Woche gibt Lilija Schalirowa Aufklärungsunterricht in den Räumen der Aidshilfe, einmal im Monat besucht sie entlegene Gebiete in Westsibirien, um auch dort Jugendliche zu erreichen. "Ich kläre darüber auf, dass sich das Virus in allen Körperflüssigkeiten befindet und in besonders hoher Konzentration im Sperma, in der Vaginalflüssigkeit und im Blut vorhanden ist. Beim Sex kommt es zu kleinen Verletzungen des Darms oder der Schleimhaut der Vagina und Infektionen sind möglich. Damit ist Aids nicht nur eine Sache, um die sich homosexuelle Männer kümmern müssen.” Lilija will die Jugendlichen davon überzeugen, dass nur Sex mit Kondomen wirkungsvoll schützt. Auf ihren Touren hat sie immer genügend Präservative dabei, die sie den Jugendlichen gibt.
Auch im "Metro" verteilt Lilija Kondome. Viele stecken sie einfach ein und lachen albern. "Die meisten liegen nachher aufgeblasen vor der Disko”, sagt Lilija mit etwas verzweifelter Stimme. "In den Köpfen gerade der jungen Männer sind alte Rollenverständnisse fest verankert: Ein Mann muss viele Frauen haben und natürlich ohne Kondom mit ihnen schlafen. Sonst ist er kein Mann.”
Lange Zeit hat der Staat die Arbeit von Organisationen wie der sibirischen Aidshilfe kaum unterstützt. HIV und Aids waren in Russland Tabuthemen, über die nicht gesprochen wurde, die nur Randgruppen wie Homosexuelle und Drogenabhängige betrafen. Die Situation war so verfahren, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2002 damit rechnete, dass es im Jahre 2020 bis zu 15 Millionen HIV-Infizierte in Russland geben könnte. Mit den steigenden Infektionszahlen in allen sozialen Schichten erkannte die Regierung Putin schließlich das Problem und handelte. 2003 und 2004 stellte der Staat je fünf Millionen Dollar für Projekte der Aidsprävention zur Verfügung.
"Das hilft uns sehr weiter und wir sind froh, dass unsere wichtige Arbeit unterstützt wird. Es geht um die Zukunft unserer jungen Menschen”, erzählt Lilija.
Zusammenarbeit mit deutschen Organisationen
Hoffnung gibt der jungen Frau die Erfahrung aus anderen Ländern. ,,In Deutschland gibt es seit über 15 Jahren Kampagnen, um eine Epidemie zu stoppen. Dort gibt es zwar auch Infizierte, aber längst nicht so viele. Die Jugendlichen sind viel besser informiert. Die Zahl der HIV-Infizierten in Deutschland bleibt weit hinter einstigen Befürchtungen zurück.”
Lilija Schalirowa arbeitet viel mit der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) zusammen, die ebenfalls in Russland gegen Aids kämpft: ,,Wir profitieren von den langjährigen Erfahrungen, die die GTZ auf diesem Gebiet hat.”
Dass Lilija Schalirowa einmal pro Woche Diskotheken besucht, geht auf eine Anregung der GTZ zurück. ,,Hier erreiche ich viele Jugendliche und auch wenn viele nur den Kopf schütteln, weiß ich, dass sie sich doch ein paar Gedanken machen”, meint Schalirowa.
Bei Nikolaj war sie nicht erfolgreich. Er hat ohnehin seine ganz besondere Theorie, warum er kein Aids bekommen kann: ,,Bei unseren Temperaturen im sibirischen Winter hat das Virus keine Chance”, meint er.
Hintergrund:
Die New York Times berichtete am 3. Juli 1981 zum ersten Mal über eine geheimnisvolle Krankheit, an der offenbar nur homosexuelle Männer erkrankten: Aids (Acquired Immune Deficiency). Forscher fanden heraus, dass für die Krankheit das HI-Virus (Human Immune Deficiency Virus) verantwortlich ist. Aids setzt über Jahre hinweg das Immunsystem des Menschen außer Kraft. In alle Körperflüssigkeiten kommt das Virus vor. Da aber das HI-Virus im Blut und im Sperma in besonders hoher Konzentration vorkommt, waren homosexuelle Männer am Anfang besonders gefährdet: Der Darm ist besonders empfindlich. Dadurch kommt es beim Anal-Verkehr schnell zu kleinen Verletzungen, so dass das Virus leicht übertragen werden konnte. Über Tränen oder Speichel kann HIV nicht weitergegeben werden, da in diesen Flüssigkeiten die Konzentration des Virus zu gering ist.
Bislang gibt es noch keinen Impfstoff. Das HI-Virus verändert sich ständig. Es kann mehrere Jahre dauern, bis nach der Infektion mit HIV die Krankheit Aids ausbricht. Mit starken Medikamentencocktails können Betroffene Jahre mit der Krankheit leben. Am Ende steht jedoch der Tod. Zahlreiche Organisationen haben sich weltweit der Aidsprävention verschrieben. Krisenzentren mit den höchsten Infektionsraten sind die afrikanischen Staaten. In Deutschland waren im vergangenen Jahr 40000 Menschen mit dem HI-Virus infiziert. Beratung und Informationen gibt die deutsche Aidshilfe unter www.aidshilfe.de.
Bildunterschriften: Nr.1: Auf Nummer sicher: Nur Kondome schützen am wirkungsvollsten vor einer Infektion mit HIV
Nr.2: Engagiert: Seit über zwei Jahren betreibt Lilija Schalirowa Aidsprävention in Westsibirien.
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