Russland

Der Rubel rollt den alten Menschen davon

Slawgorod (n-ost). Sergej Medwedew schämt sich. Nein, er kann den Menschen, die auf dem Markt an ihm vorbei schlendern, nicht in die Augen sehen. Leise murmelt er die Worte "Pomogi mnje poschalusta" (Hilf mir bitte). Hin und wieder landen ein paar Rubel in seinen zerfurchten Händen, die das ganze Leben gearbeitet und nun nicht das tägliche Brot zum Essen haben.

Sergej Medwedew ist 66 Jahre alt, Rentner im sibirischen Slawgorod, gut 400 Kilometer südwestlich von der Regionalhauptstadt Nowosibirsk entfernt. Der Staat, der ihm in seinem Berufsleben drei Mal zum "Verdienten Lehrer der Sowjetunion" und zwei Mal zum "Meisterlehrer der Russischen Föderation" ernannt hat, zahlt ihm nach 44 Jahren Schuldienst 1048 Rubel (28 Euro) Rente im Monat. "Davon kann ich nicht leben“, sagt Sergej. Allein die Miete für seine Wohnung beträgt 410 Rubel (11 Euro) im Monat. Hinzu kommen noch die Kommunalkosten für Strom und Wasser. "Über 550 Rubel (15 Euro) sind weg, ohne, dass ich sie in den Händen hatte", sagt der Rentner.

In Slawgorod hat längst der Winter begonnen. Das Quecksilber fällt nachts auf minus 15 Grad Celsius und tiefer. In Sergejs Wohnviertel gibt es kein warmes Wasser. Die Stadt muss sparen. Gerne würde sich der Mann, den seit Jahren schweres Rheuma plagt, eine kleine Elektroheizung kaufen, um wenigstens die Schlafstube zu wärmen. ,"1890 Rubel (52 Euro) kostet der billigste Ofen hier auf dem Markt", sagt Sergej. "Wie soll ich mir das leisten?" Da bleibt nur der dicke, mit Silberfuchspelz gefütterte Mantel, den Sergej im Winter auch zu Hause Tag und Nacht trägt.

Mitte des Monats ist seine gesamte Rente aufgebraucht. Brot, Wurst und Käse, alles gibt es in den Läden mittlerweile zur Genüge, doch auch die Preise steigen ständig. Allein in diesem Jahr wird die Inflation wieder um die zehn Prozent betragen. "Für ein wenig Wurst, Käse, Tee und was Süßes sind schnell 50 bis 80 Rubel (zwei bis drei Euro) ausgegeben", erzählt der alte Mann. Würden ihm nicht hin und wieder Nachbarn selbstgezogene Tomaten und Gurken aus ihren Gärten schenken, wüsste er nicht, was er essen sollte.

So geht Sergej Medwedew vier bis fünfmal im Monat auf den Markt, um zu betteln. Das fällt dem früheren Lehrer für Geschichte und Deutsch nicht leicht. "Ich musste ein Stück meiner Selbstachtung aufgeben", sagt er.
Wenn er auf die Straße geht, um die Hand aufzuhalten, trägt er immer sein blaues Sakko. An ihm hängen die Orden, die er einst überreicht bekam: goldene Sterne, die in der Sonne funkeln. "Die Leute sollen sehen, dass ich nicht irgendein Dahergelaufener bin, sondern dass ich immer gearbeitet und mich für unser Land eingesetzt habe." Ein überzeugter Kommunist war Sergej nie, aber er glaubt, dass das Leben früher besser war. "Mit der Demokratie ist es mit den Verhältnissen bergab gegangen. Früher mussten die Alten nicht um Geld flehen. Und die Menschen sind kalt und frech geworden." Er erzählt von den neuen reichen Russen, die es auch schon in Slawgorod gibt und die ihm hin und wieder einen 100-Rubelschein mit den Worten: "Hier für deinen Wodka und deine Prostituierten" auf die Erde werfen. Auch wenn sich dann die braunen Augen des Mannes mit Tränen füllen und er vor Scham rot anläuft, hebt er den Schein auf. Bis zu 800 Rubel (25 Euro) verdient er auf diese Weise zur Rente hinzu. Damit kommt er dann aus. Gerne gäbe er Nachhilfe in Deutsch oder Geschichte. "Aber es gibt so viele junge Lehrer. Denen will ich die wenige Arbeit nicht wegnehmen."

Sergej ist einer unter vielen. Er zeigt mit der Hand über den Markt: "Dahinten die alte Frau mit den Stock, die Tomaten verkauft, da der Mann, der Schuhe putzt - all dies sind Rentner, die nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen." Der Weltarmutsbericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2003 setzt Russland, die einstige Supermacht, von 175 untersuchten Staaten an die 63. Stelle. Armut betrifft in der Russischen Föderation dem Bericht zufolge hauptsächlich die alte Generation. 39 Millionen Menschen leben in Russland unter der Armutsgrenze. Fast zwei Drittel davon sind Rentner.

Sergej weiß, dass sich in seiner Zukunft nichts ändern wird. "Putin interessiert sich nicht für die alten Menschen. Er will, dass der Rubel rollt, auch wenn wir nichts davon haben."

Was er macht, wenn das Rheuma zu stark wird und er nicht mehr um Almosen bitten kann, weiß Sergej schon ganz genau: "Ich lege mich mit meinem Sakko in mein Bett und warte auf den Tod. Dann sterbe ich als "Meisterlehrer der Russischen Föderation" und nicht als Bettler."

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Hintergrund: Soziales Netz in Russland
Zwischen 1000 und maximal 1500 Rubel (28 und 42 Rubel) liegen die Renten in der Russischen Föderation. Soziale Sicherungssysteme gibt es zwar im Land, aber die Leistungen sind mit deutschen Verhältnissen nicht zu vergleichen. Es gibt zum Beispiel eine Kranken- und Rentenversicherung für Alte, Invaliden und Kriegsveteranen. Diese bekommen auch Vergünstigungen beim Kauf von Medikamenten. Es gibt Medikamente, die ganz umsonst abgegeben werden und welche, auf die ein 50-prozentiger Nachlass gewährt wird. So steht es im Gesetz. Die Realität sieht so aus, dass die Kontingente der vergünstigten Arzneimittel meistens aufgebraucht sind und die Menschen die mitunter lebensnotwendigen Medikamente kaufen müssen. Viele Menschen können demnach nur überleben, wenn Sie Lebensmittel im Garten selber anbauen, Geld hinzuverdienen oder betteln gehen.


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