Russland

Hoffen auf ein Wunder

Sbornaja – so wird in Russland die Nationalmannschaft genannt. Um die Bedeutung zu verstehen, hilft ein Blick in die russische Küche. Dort existiert ein Gericht mit dem Namen „Sbornaja Soljanka“, eine Art Eintopf mit zusammengewürfelten Zutaten. Das sollten Sie sich merken und bloß nicht verwechseln: Die Sbornaja ist eine Mannschaft, zusammengewürfelt aus Spielern verschiedener Clubs. Die „Sbornaja Soljanka“ dagegen ist eine Suppe, die aus dem Fleisch verschiedener Würste zusammengewürfelt wird.

Aber kehren wir aus dem Restaurant zurück in die Vergangenheit. Am 17. Oktober 2007 verlor Russland den Verstand. Am Abend jenes Tagen veranstalteten die Moskauer Autofahrer ein nicht enden wollendes Hupkonzert, und die Menschen, trunken vor Alkohol und Freude, umarmten ihnen völlig unbekannte Fußgänger. Das Epizentrum des nationalen Glücks befand sich im Stadion Luschniki, wo die Sbornaja die Engländer unerwartet mit 2:1 geschlagen hatte. Bis zu diesem Tag war die Sbornaja ein beliebtes Ziel für scharfe Witze in den Comedy-Shows des russischen Fernsehens gewesen. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR hatte Russland nur ein einziges Mal gegen eine Top-Mannschaft gewonnen. 1999 besiegte Russland den amtierenden Weltmeister Frankreich. Aber die Freude währte nicht lange. Nur drei Monate später unterlag die Sbornaja dem Erzrivalen Ukraine – und verpasste damit die EM 2000. Das Spiel gegen die Ukrainer gilt bis heute als die größte Tragödie des russischen Fußballs. Der talentierte Torwart Alexander Filimonow beerdigte seine Karriere zwei Minuten vor dem Ende des Spiels, als er eine einfache Flanke von Andrej Schewtschenko ins eigene Tor lenkte. Alle Heldentaten der Sbornaja wurden von einem einzigen Fehler zunichte gemacht. Von einem kleinen Fehler für einen Russen, aber einem gigantischen für Millionen von Russen.

Dieses Drama im Luschniki sahen damals 80.000 Zuschauer. Ein Rekord für das in den 90er Jahren verarmte Russland. Ich erinnere mich gut daran, wie schwer diese Zeiten waren. Meine Eltern hatten wie tausende andere wegen des Staatsbankrotts ihre Arbeit verloren. Ich war damals in der Grundschule und hatte Angst davor fernzusehen. Dort wurde nur über den Krieg in Tschetschenien und die Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser in verschiedenen Städten Russlands geredet. Ein wichtiges Fußballspiel war die einzige Hoffnung auf eine positive Nachricht. Aber nicht in jener Nacht. Das überfüllte Stadion in Moskau wurde zum Symbol der Enttäuschung und eines unerfüllten Traums.

Erst acht Jahre später sollte das Luschniki wieder ausverkauft sein – als es eben gegen England ging. Den Tag nach dem Spiel hätte man eigentlich gleich zum Feiertag erklären können, weil viele ihrer Arbeit fern blieben. Sogar der Fußballtrainer unserer Schule roch an diesem Tag nicht wie üblich nach dem Deo Old Spice, sondern nach Alkohol. Die Russen witzeln oft, dass unser Nationalcharakter darin bestehe, dass wir uns keinen Stress machen und stattdessen darauf hoffen, dass alles schon irgendwie klappt. „Hoffen auf das Awо́s“ heißt das bei uns. In diesen Witzen steckt sehr viel Wahrheit. Bald nach dem großen Sieg gegen England unterlag Russland sensationell Israel und verlor wichtige Punkte in der Qualifikation. Zur Europameisterschaft 2008 fuhr das Team nur, weil Kroatien wie durch ein Wunder England schlug. Das „Awо́s“ hatte funktioniert. Der glückliche Einzug in die Endrunde gab der Mannschaft Schwung. Den Rest schaffte sie aber selbst. Im Jahr 2008 zog die Mannschaft zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder in ein EM-Halbfinale ein. Die Russen freuten sich über den Sieg gegen die favorisierten Holländer so, als wäre es das Finale gewesen. Mein ganzer Stolz gehörte Andrej Arschawin. Der Typ, der einst in meinem Nachbarhaus in Sankt Petersburg gewohnt hatte, machte das Spiel seines Lebens und wurde zum Weltstar.

Dieses denkwürdige Spiel gegen Holland schaute ich zusammen mit meinem Vater und meinem Großvater. Drei Generationen unserer Familie hatten jeweils eine der wichtigen Perioden in der Geschichte der Sbornaja erlebt: mein Großvater den Aufstieg der sowjetischen Sbornaja in den 60ern, mein Vater die letzten Glanzpunkte in den 80ern, ich den Niedergang in den Nullerjahren. Mein Großvater erzählte, dass der Sieg der UdSSR bei der Europameisterschaft 1960 kaum wahrgenommen wurde, weil Fernseher damals noch Mangelware waren, und das Radio und die Zeitungen konnten die Emotionen nicht wirklich wiedergeben. Auch mein Vater erinnerte sich an keine verrückten Feiern im Jahr 1988, als die Sbornaja die Olympiade gewann und das letzte Mal in ein Finale der Europameisterschaft einzog. Zum einen, weil die Sowjet-Behörden inoffizielle Feiern auf den Straßen nicht gut hießen, zum anderen, weil die Fans sich damals mehr für Eishockey interessierten. Erst im neuen Russland wurde der Fußball zum Massenphänomen. Deshalb war es 2008 unmöglich, die Emotionen zurückzuhalten.

Die Bronzemedaillen 2008 wurden jenen Jungs überreicht, die in der Anarchie der 90er Jahre aufgewachsen waren, die den Fußball in löchrigen Schuhen auf staubigen Höfen gelernt hatten. Die besten von ihnen wechselten bald in die Top-Clubs: Schirkow zu Chelsea, Pawljutschenko zu Tottenham, Arschawin zu Arsenal. Der Trainer Guus Hiddink hatte eine fantastische Geschichte geschrieben. Und den Holländer nennen sie in Russland bis heute voller Verehrung den „Märchenonkel“.

Bald hatten die Helden von 2008 den Höhepunkt ihrer Karrieren überschritten, und es gab niemanden, der sie ersetzen konnte. Es ist in Russland nicht nur schwer, Fußballer zu finden, die Anfang der 90er geboren wurden. Es ist überhaupt schwer, Menschen aus dieser Generation zu finden. Nach der Perestroika erlebte das Land eine dramatische demographische Krise. Der russische Fußball-Bund hätte mehr Geld in die Jugendarbeit stecken können, aber er steckte sie lieber in die Taschen von Fabio Capello. Der Italiener schaffte es zwar, die Mannschaft in die Endrunde der EM 2014 zu bringen. Aber dort gewann die Sbornaja kein einziges Spiel. Laut Daily Mail verdiente Capello 7,5 Millionen Euro im Jahr. Zum Vergleich: Das Salär von Joachim Löw, der 2014 den WM-Titel holte, soll bei 2,5 Millionen Euro liegen.

Der teuerste Trainer in der Geschichte der Sbornaja stürzte den russischen Fußball-Verband in Schulden und blieb erfolglos. Zur selben Zeit änderte sich in Russland die politische Lage. Nach der Verschlechterung der Beziehungen mit dem Westen standen die Zeichen auf Sanktionen und Importsubstitution. In dieser Situation, einen teuren Ausländer anzustellen, wäre der Gipfel der Heuchelei gewesen. Seit dieser Zeit wird die Sbornaja nur von Russen trainiert, bislang jedoch ohne Erfolg. Die Blamage bei der EM 2016 nahm man in Russland stoisch auf. Die Russen zeigten sich voll und ganz einverstanden mit der Selbstkritik des Trainers Leonid Sluzkij, der mutig erklärte hatte: „Nach dem Turnier waren wir mit den Spielern einer Meinung: Wir sind Scheiße.“

In diesen schwierigen Zeiten hat ein russischer Trainer mit einer maximal europäischen Mentalität die Mannschaft übernommen: Stanislaw Tschertschessow hat in Deutschland für Dynamo Dresden gespielt, seine Karriere beim FC Tirol Innsbruck beendet und dieses Team danach trainiert. Unter Tschertschessow fiel die Sbornaya 2017 auf den historisch niedrigsten Platz 65 in der FIFA-Rangliste. Dabei stand man neun Jahre zuvor noch auf dem achten Platz!


Diese Texte sind dem Reiseführer "Doppelpass mit Russland" entnommen, der zur Fußballweltmeisterschaft in Russland gemeinsam mit Fankurve Ost und n-ost konzipiert und produziert und von der DFB-Kulturstiftung herausgegeben wurde. Ein kostenloses PDF-Exemplar können Sie hier herunterladen. 

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