Die Geige ist mein Leben
Rostow (n-ost). Langsam steigt sie die Bühne der Rostower Philharmonie hinauf, Treppe für Treppe. Eine ältere Dame, die Katja an die Hand nehmen will, weist sie mit einer Geste zurück, als wolle sie sagen: „Ich schaffe das schon alleine.“. Oben angekommen, guckt die zierliche junge Frau mit festem Blick ins Publikum und lächelt, ihre Geige hält sie fest in der Hand. Keinen Schritt geht sie mehr, wie angewurzelt bleibt sie am Piano stehen und lauscht. Sie wartet auf den Beginn ihres eigenen Konzertes. Ihre Klavierbegleitung flüstert etwas, dann folgt der erste Ton und Katja Bespalowa setzt ihren Bogen vorsichtig auf die Geige. Starr, mit weit aufgerissenen Augen schaut sie jetzt an die Wand des Konzerthauses, man könnte meinen, ein Maximum an Konzentration fesselt ihren Blick. Doch Katja Bespalowa ist blind, schon seit ihrer Geburt.
Einen Konzertsaal hat sie noch nie gesehen und auch nicht die Augen ihres Publikums. Die Seiten ihrer Geige kennt sie nur durch ihre Fingerspitzen. Die Notenblätter des finnischen Komponisten Jan Sebelius, dessen Violinkonzert sie heute Abend vorträgt, braucht sie nicht – sie hat die Töne alle im Kopf. Etwa dreißig Minuten spielt sie fehlerfrei, ihr Atem geht schwer vor Anstrengung. Der Schlussakkord – gespannt lauscht sie dem tobenden Applaus des Publikums. Jetzt strahlt sie über das ganze Gesicht, die Erleichterung über den gelungen Auftritt ist ihr anzusehen. Katja steht auf der Bühne, noch immer an genau der selben Stelle, wie vor einer halben Stunde und wartet. An der Seite bewegt sich ein Vorhang, die ältere Dame kommt wieder auf die Bühne, nimmt Katja am Arm und führt sie hinaus.
„Manche Dirigenten lehnen es ab, mit mir als Orchestergeigerin zu spielen.“, sagt Katja nach dem Auftritt. „Na, sollen sie doch. Dann müssen sie sich eben andere Geiger suchen.“, sagt sie trotzig. Katja ist angewiesen auf Hilfe – von Dirigenten, die statt den Einsatz vorzugeben, auf die Geigerin schauen müssen, um sich an ihrem Tempo zu orientieren. Das macht nicht jeder Orchesterchef. „Das müssen Menschen sein, die offen sind für anderes und neue Formen.“, meint Katja. Und solche gibt es. Sie spielte schon auf den Bühnen Moskaus und Petersburgs, aber auch in Deutschland und in Frankreich. Das Reisen sei nach der Musik ihre zweite Leidenschaft, sagt die junge Geigerin. Auch unterwegs braucht sie immer eine Begleitung, von Hilfe will sie aber nichts hören – sie will alles irgendwie alleine können.
Katja Bespalowa ist 21 Jahre jung, sie studiert noch am Rostower Musikkonservatorium. Das Pianospiel sei eine Pflichtübung, ihre Welt aber war, schon seit sie fünf Jahre alt ist, die Geige. Damals kam sie auf eine Musikschule für Kinder und sollte sich dort einfach ein wenig beschäftigen. Ihre Eltern ahnten nicht, dass sich die Tochter mit großem Ehrgeiz an die Finessen des Geigenspiels heranmachen würde. „Die Geige war fortan mein Lieblingsspielzeug. Viel mehr brauchte ich nicht.“, sagt Katja. Vier Jahre später wurde sie am Lyzeum des Rostower Konservatoriums aufgenommen. Neben dem üblichen Unterricht werden dort Nachwuchstalente ausgebildet – tägliches Üben ist für die Schüler selbstverständlich. Der Direktor der Schule schickte ihr zunächst eine Absage – eine blinde Geigerin, das hätte wenig Aussichten auf Erfolg. Doch Katja ist stur. Sonst stünde sie heute nicht auf der Bühne. Im zweiten Anlauf überzeugte sie einen der einflussreichen Professoren, der Katja heute noch ausbildet. „Katja war von Anfang an ungewöhnlich enthusiastisch.“, sagt auch Gallina Kaloschina, die Katja schon als Kind in Musiktheorie unterrichtet hat. „Heute gibt es keinen Zweifel, dass Katja besser spielt, als die, die sehen können.“
Musiktheorie, das sind Berge von Büchern über Komponisten, Epochen und musikalische Stilrichtungen. Sie braucht einen Vorleser, um sich dieses Wissen anzueignen. Dann notiert sie sich alles in Blindenschrift und kann später das Notierte auswendig lernen. Ähnlich ist es mit den Notenblättern. Es ist schwierig, Partituren in Blindenschrift zu kaufen. Es gibt spezielle Geschäfte, aber nur in Moskau – und so hat sich Katja längst angewöhnt, die Umschriften selben zu machen. Ihr Gehirn kann sich einmal Gehörtes mühelos merken: „Im Prinzip übe ich, indem ich die Konzerte immer wieder höre. Das ist nicht kompliziert. Viel schwieriger ist es, die Inspiration zu finden, um den Werken einen eigenen Klang zu verleihen.“.
Sechs bis acht Stunden am Tag übt sie das Geigenspiel. Tschaikowski, Mendelssohn, Chatschaturian sind ihre Lieblingskomponisten: „Nein, sie haben nichts gemeinsam, aber ihre Musik ist wunderbar.“ Moderne Musik interessiert die 21-Jährige wenig, nur ab und zu nimmt sie ein paar Studenten mit nach Hause, dann tanzen sie gemeinsam, wie in einer Disco. Viel Freizeit hat sie ohnehin nicht, denn neben den Übungsstunden geht sie täglich in die Universität. „Die Musik ist mein Leben. Alles andere ordnet sich ihr unter. Sie wird mein Beruf werden – einen anderen kann ich mir nicht vorstellen.“ Katja will eine Karriere als Solistin schaffen – am liebsten mit internationaler Reputation. Es gibt keine Vorbilder für sie. Zwei blinde Geiger hat sie bislang auf Konzertreisen getroffen, doch beide – ein Pole und eine Russin – spielen im Mittelfeld. Sie sieht sich an der Spitze. Verschiedene nationale Preise hat sie schon gewonnen, gerade erst im Mai stand sie in Moskau während des Talentwettbewerbs der Stiftung „Die Welt der Kunst“ mit der weltberühmten Operndiva Maria Gulegina auf der Bühne. Dort gewann sie eine wertvolle italienische Geige – doch das reicht noch nicht. Wenn sie über ihre Zukunft spricht, werden ihre Augen noch größer, sie drückt die Fäuste zusammen und sagt: „Ja, das kann ich schaffen.“
*** ENDE ***
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Franka Kühn