Russland

Der Ostblockbuster


Von Jens Mühling (jens.muehling@gmx.de, Tel: +7 095 248 23 30 oder +7 095 966 14 73)

Moskau (n-ost). Jeder Moskauer kennt dieses Kribbeln. Es kommt mit der Dämmerung: Wenn die letzten Sonnnenstrahlen im Abendsmog tanzen, dann verwandelt sich dieses irrwitzige Stadtgetüm in ein undefinierbares Zwischenreich, in dem sich der Mensch merkwürdig fehl am Platz vorkommt. Wem gehört diese Stadt? Den neuen Russen oder den alten Kadern? Den Trinkern, den Spinnern oder den Kakerlaken? Muss sie vielleicht erst noch erfunden werden, jene Spezies, die in Moskau einen Sinn finden könnte?

Letzteres postuliert jedenfalls ein Film, von dem derzeit ganz Russland spricht. In Notschnoj Dosor („Nachtpatrouille“) gehört Moskau den Inyje, den „Anderen“, einer lichtscheuen Fabelgattung irgendwo zwischen Vampir, Werwolf und mythischer Gottheit. Geschickt lässt der Film Wirklichkeit werden, was die meisten Moskauer schon immer ahnten: Menschen sind nur Statisten in dieser Stadt, schlafwandelnde Zombies in einem Betongebirge, dessen eigentlicher Daseinsgrund ein Kampf zwischen den Mächten des Lichtes und der Dunkelheit ist.

Mitte Juli ist Timur Bekmambetows düsteres Fantasy-Epos russlandweit angelaufen, um bereits am ersten Wochenende über fünf Millionen US-Dollar einzuspielen und zum erfolgreichsten russischen Film aller Zeiten zu avancieren. Inzwischen hat Notschnoj Dosor mit einem Einspielergebnis von über 14 Millionen Dollar sogar sämtliche Hollywood-Konkurrenten aus dem Feld geschlagen, inklusive des dritten Teils der „Herr der Ringe“-Saga, dem bislang erfolgreichsten in Russland gezeigten Film.

Der spektakuläre Durchbruch des Films scheint selbst die Erwartungen seiner Macher übertroffen zu haben, die doch von Anfang an alles daran gesetzt hatten, den ersten echten Blockbuster der russischen Kinogeschichte zu produzieren. Hinter Notschnoj Dosor stehen der mächtige Erste Kanal des russischen Staatsfernsehens und dessen Generaldirektor Konstantin Ernst, der bereits Wochen vor dem Kinostart eine für russische Verhältnisse gigantische PR-Kampagne lanciert hatte. Ganz Moskau wurde flächendeckend mit Plakaten überzogen, an Häuserwänden tauchten sogar Graffitis wie „Meide die Dämmerung“ auf. Landesweit lief der zwei Millionen Dollar teure Film in 310 Kinos gleichzeitig an, einer für postsowjetische Verhältnisse besipiellosen Zahl. Ein zweiter, bereits abgedrehter Teil wird im März des kommenden Jahres gezeigt, ebenfalls geplant sind eine Fernsehadaption im Serienformat, eine DVD-Version und ein Computerspiel. Seit Wochen rotiert Konstantin Ernst durch die russischen Talkshows und wagt tapfere Prognosen: Notschnoj Dosor werde den Weg für ein Revival des russischen Kinos ebnen. Zur Zeit sei nur jeder zehnte hierzulande gezeigte Film russischer Herkunft, schon in den nächsten zwei Jahren könne dieser Anteil auf ein Viertel gesteigert werden.

Nun macht ein Film natürlich noch keine Tendenz. Zumindest aber beweist der Erfolg von Notschnoj Dosor, dass großes Publikumskino in Russland wieder möglich ist, zumal die Popularität des Films nicht allein dem immensen PR-Aufwand zugeschrieben werden kann. Timur Bekmambetows Film kommt den Sehbedürfnissen der jungen, stetig wachsenden Mittelschicht der russischen Großstädte entgegen. Das Fantasy-Genre, insbesondere die Bücher von Sergej Lukjanenko, auf denen der Film basiert, sind ungemein populär unter diesen Kinogängern. Notschnoj Dosor adaptiert die mystische Romanvorlage mit visuellen Effekten auf Hollywood-Niveau, setzt jedoch gleichzeitig auf den Wiedererkennungseffekt der bizarren Moskauer Stadtsilhouette, auf verdreckte Kommunalka-Küchen, klaustrophobische U-Bahn-Waggons und den Wahnsinn des innerstädtischen Autoverkehrs. Einen Film, der die Oberfläche des heutigen Moskau derart bildgewaltig einfängt, gab es in Russland bislang nicht.

Warum eigentlich? Ahnte man nicht längst, dass in den optischen Verkrustungen dieser Zwölf-Millionen-Metropole visuelle Kraft, dass in den Plattenbauten Pathos steckt? Doch – nur beschäftigt sich das russische Kino selten mit der Gegenwart. Große Filmprojekte loten hierzulande lieber die Sowjetvergangenheit aus, wenn sie nicht gleich, wie Alexander Sokurows „Russische Arche“, als Gesamtschau der russischen Geschichte daherkommen. Mit besonderer Hartnäckigkeit widmet sich das „vaterländische“ Kino, wie es meist genannt wird, nach wie vor dem Großen Vaterländischen Krieg: Beim Moskauer Filmfestival im Juni etwa spielten alle drei russischen Wettbewerbsbeiträge in der Kriegs- oder unmittelbaren Nachkriegszeit.

Und so fehlen in Russland bislang Filme, die ihre analytische Kraft der Gegenwart widmen. Das tut weder Andrej Swjaginzews hochgelobter Venedig-Gewinner „Die Rückkehr“, in dem drei geschichtslose Protagonisten auf einer entlegenen Insel miteinander ringen, noch tut das Notschnoj Dosor, in dem der Kampf zwischen Licht und Dunkelheit ein mythischer ist, dessen Ursprünge nicht in den historischen Bedingungen der gefilmten Jetzt-Zeit verortet werden.

Meist steckt jedoch hinter diesem blinden Fleck des russischen Kinos keine ängstliche Scheu, sondern vielmehr vehemente Abscheu vor dem Hier und Jetzt. Wer das Kino zur Aktualität mahnt, stößt in Russland meist auf Unverständnis: Das Leben hier, so das gängige Argument von Filmemachern wie Kinogängern, sei schäbig genug – warum sollte man das auch noch im Film zeigen?

*** ENDE ***

Jens Mühling



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