Olympische Spiele 1944 im Kriegsgefangenenlager
Von n-ost-Korrespondent Andreas Metz, Kontakt: 0160/99854748, amadmetz@gmx.de
Borne Sulinowo (n-ost). Wer das Gemeindeinformationsamt der Stadt Borne Sulinowo betritt, steht mittendrin in der Gerüchteküche. Leiterin Irena Skowronek saugt die neuesten Geschichten auf wie ein Schwamm. „Rommel hat mit seinem Korps hier für den Afrikafeldzug trainiert. Hitler baute hier eine Villa für Eva Braun. Und man vermutet, dass die Deutschen hier ihr Atomprogramm betrieben“, plaudert die Polin munter drauflos. Deshalb müsse es hier auch diese unterirdische Stadt samt Eisenbahnlinie geben, nach der alle suchten. Sie selbst würde ja auch gerne forschen, aber neulich hätten sich schon Leute vom polnischen Geheimdienst nach ihr erkundigt. Deshalb lasse sie nun lieber die Finger davon.
Borne Sulinowo in Pommern ist Loch Ness zum Quadrat. Nirgends in Europa sind auf so wenigen Quadratkilometern so viele Geheimnisse versteckt. Immerhin hatten sie mehr als 70 Jahre Zeit, sich hier anzusammeln. So lange war das Gebiet 150 Kilometer östlich von Stettin ein weißer Fleck auf den Landkarten. 1933 begannen die Nazis am Rande des Sees Pile mit dem Bau des Truppenübungsplatzes Gross Born, für den mehrere Dörfer weichen mussten. Fast gleichzeitig legten sie entlang der Pommerschen Seenplatte einen kaum bekannten großen Sperrriegel aus Bunkerstellungen an. Dennoch fiel der Roten Armee die Militärbasis auf rätselhafte Weise unzerstört in die Hände. Dankbar quartierte sie sich 1945 ein und baute das Gelände zur größten und am besten bewachten Militärbasis des Warschauer Paktes in Mitteleuropa aus. In zwei Siedlungen wurde Platz für 18.000 Militärs geschaffen, Atomraketen inklusive. Dann kam die Wende, die Russen zogen ab, die Tore von Borne Sulinowo öffneten sich und Polen stand 1992 unverhofft mit dem größten Konversionsobjekt Mitteleuropas da.
Im Jahre 2003 feierte Borne Sulinowo, die jüngste Stadt Europas, ihren zehnten Geburtstag. Erst 4000 Einwohner haben sich dauerhaft ins „polnische Eldorado“ (Werbeslogan) locken lassen, genießen die Abgeschiedenheit, die billigen Mieten in den ehemaligen Kasernen und die wunderschöne Natur, in der noch Biber, Otter und sogar Wölfe und Elche beobachtet werden. Viele Neusiedler, die hierher kamen, sind längst wieder gegangen. Mehr als die Hälfte der Gebäude ist verwüstet. Es fehlen Arbeitsplätze und damit Perspektiven.
Andrzej Michalak ist einer, der es geschafft hat. Der leidenschaftliche Sammler ist in Borne Sulinowo auf einen Rohstoff gestoßen, der im Überfluss vorhanden ist: Geschichte.
Täglich um zehn Uhr fährt Michalak mit seinem Sohn in zwei ausrangierten Armeetransportern Touristen über das ehemalige Militärgelände. Er kriecht mit ihnen 400 Meter weit durch deutsche Bunkerstellungen, besucht zerstörte Kasernen mit verblichenen kommunistischen Losungen, zeigt ihnen die Häuser von Dubinin und Rommel und die ausgebrannte Villa, die Hitler angeblich für Eva Braun errichten ließ. Zeitweise wohnte hier auch der Panzergeneral Guderian, der 1939 in Gross Born den Überfall auf Polen vorbereitete. Tatsachen und Legenden mischen sich munter. Auch Michalak ist der unterirdischen Stadt auf der Spur, die der Wünschelrutengänger Dr. Jan Krasinski vor Jahren geortet haben will. Von Tunneln spricht er, von einer geheimnisvollen Insel im Pile-See und einem Wald unter Wasser. Tatsache ist, dass die Insel auf alten Karten doppelt so groß war und der See früher doppelt so tief. Der Grund? Der Einsturz einer unterirdischen Fabrik unter der Insel? Feuerübungen von neuartigen U-Booten? Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Michalak hat viel zu tun. Dass der Zutritt zu den Bunkern und den Kasernen illegal und gefährlich ist, schert ihn nicht, solange sich die Touristen um die Plätze reißen. Nach der Führung ist der gelernte Maurer Michalak mit seinem Metalldetektor in den Wäldern und leerstehenden Häusern um Borne unterwegs oder taucht in überflutete Bunker ab. Was er dort findet, kann man in einem kleinen Museum bestaunen: Granaten in allen Ausführungen, Stahlhelme, alte Zeitungen, Bierkrüge und Porzellan mit Hakenkreuzen, Wandzeitungen für Lenin, russische Uniformen. „Es ist faszinierend, etwas Unbekanntes zu entdecken“, sagt Michalak und lässt lässig die leere Patronenhülse an seinem Schlüsselbund durch die Finger gleiten. Er hat eine Gesellschaft gegründet, die Borne Sulinowo als militärischen Abenteuerspielplatz touristisch vermarkten will. Einmannbunker in Tarnfarben wurden bereits beiderseits der Zugangsstraßen aufgestellt.
Für den Förster Tomasz Skowronek sind Leute wie Michalak gefährliche Desperados. Auch Skowronek geht es um die Geschichte von Borne Sulinowo, aber nicht um der Sensation sondern der Aufklärung und der Versöhnung Willen. „Man könnte hier eine polnisch-russisch-deutsche Schule gründen“, überlegt der Förster. „Und an den Häusern sollten dreisprachige Tafeln hängen, die über ihre Bedeutung aufklären.“ Skowonek ist Mitglied im Rat der Stadt, unterstützt die Organisation eines deutsch-russisch-polnischen Kulturfestivals und die Kooperation mit der deutschen Gemeinde Krien bei Anklam, die seit 2001 besteht.
Förster Skowronek ist gegenwärtig der einzige, der sich um die seriöse Aufarbeitung der Geschichte des Truppenübungsplatzes kümmert. Der Grund liegt in einem Waldstück seines Reviers versteckt. Dort stieß man nach dem Abzug der Russen auf zahlreiche Menschenknochen. Skowronek fand heraus, dass es sich um Opfer von drei Kriegsgefangenenlagern, dem Oflag II D für Offiziere und den Stalags Nr. 302/323 für normale Soldaten handeln muss, die die Nazis im Zweiten Weltkrieg auf dem Militärgelände anlegten.
Auf Veranlassung des Försters begannen Archäologen der Universität Thorn 2001 damit, den Waldboden aufzugraben und die Knochen in Massengräbern zu bestatten. Nur Teile des Militärgeländes konnten untersucht werden. Insgesamt geht man von 26.000 toten Soldaten aus, die Mehrzahl davon Russen. Gestorben waren sie vermutlich an Flecktyphus, Unterernährung und katastrophalen hygienischen Bedingungen. Dass die Sowjetsoldaten, die buchstäblich auf den Massengräbern ihrer Kameraden Panzerstellungen bauten, sich nicht um die Aufklärung dieser Geschichte kümmerten, gehört zu den vielen Rätseln von Borne Sulinowo.
Skowronek ist entschlossen, die Wahrheit über die beiden Stalags ans Licht zu bringen und hofft dabei auch auf deutsche Unterstützung. Über das kleinere Offizierslager Offlag II D ist der Förster dank der Hilfe von Überlebenden bereits ganz gut informiert: „Die Gefangenen dieses Lagers – hauptsächlich französische und polnische Offiziere – wurden nach der Genfer Konvention behandelt und damit weit besser als die russischen Soldaten“, erzählt der Förster. „Das Lager hatte eine Bibliothek, Gefangene konnten Magisterarbeiten schreiben.“ Sogar eine gewisse Selbstverwaltung sei im Oflag möglich gewesen. Dies erkläre auch die folgende, seltsamen Geschichte: „Genau vor 60 Jahren, im August 1944, also Mitten im Krieg, fanden im Lager Olympische Spiele statt. Das Olympische Feuer wurde entzündet, eine Flagge gehisst, es gab sogar Medaillen aus Papier und die Lagerpost brachte eigene Olympia-Briefmarken und Briefumschläge heraus.“ Die Idee sei vom inhaftierten polnischen Sportjournalisten Zygmunt Weiss gekommen. Vor allem Leichtathletik und Boxen gehörten zu den Disziplinen. „Stabhochsprung und Schießen war aus naheliegenden Gründen für die Gefangenen verboten“, lacht Skowronek. Um die Fitness der Sportler habe sich eigens der polnische Lagerarzt Roman Rettinger gekümmert.
Olympische Spiele im Kriegsgefangenenlager, während seinerzeit die echten Spiele in London kriegsbedingt ausfielen? Eine weitere der unzähligen Legenden aus Borne Sulinowo? Nein, in diesem Fall ist alles gut mit Dokumenten belegbar. Wenigstens in diesem Fall.
*** Ende ***
Info:
-gegenwärtig läuft im Internet eine Versteigerung von Olympiamarken aus Borne Sulinowo unter www.coubertin.com/neo/neo.exe?Item=240682
-Förster Tomasz Skowronek ist erreichbar unter: tskowronek@o2.pl
-Militärtouristische Führungen bietet: Andrzej Michalak, Tel. 0048-94-37-34-710. Ein eigener Dolmetscher ist aber mitzubringen.