Königsberger Klopse an der Küste
Kaliningrad (n-ost). Im Vorortzug „Blauer Pfeil“ gibt es kaum einen freien Sitzplatz: Jugendliche, Rentner und Familien mit dicken Taschen haben sich an diesem sonnigen Freitagnachmittag auf den Weg an die Samlandküste gemacht. Gut 35 Kilometer liegt Selenogradsk, früher Cranz, von der Stadt Kaliningrad entfernt. Der älteste Badeort an der Ostsee wurde bereits im 13. Jahrhundert erwähnt und hat bis heute nichts von seiner Popularität eingebüßt, verspricht eine Broschüre. Auch Sergej, ein Facharbeiter, ist mit seiner Clique in Richtung Küste unterwegs. Sonne, Bier und ein gutes Schaschlik, das sei alles, was er von dem Ausflug erwarte, sagt der 20-Jährige und nimmt einen Schluck aus seiner Flasche. Auf dem braunen Glasbehälter klebt ein Etikett der Marke „Königsberg“, ein lokales Bier, auf das die Kaliningrader besonders stolz sind. Schließlich wird es, so die deutschsprachige Aufschrift, nach einem alten Rezept aus dem 16. Jahrhundert gebraut.
Nach einer guten halben Stunde klettert die Schar der Sommerfrischler aus dem „Blauen Pfeil“, der inmitten einer Wiese zum Stehen kommt. Unweit des schmalen Bahnsteigs grast ein Ziegenbock. Die Kolonne zieht durch eine Allee in Richtung Meer, vorbei an maroden Holzvillen, die den Charme vergangener Tage leise erahnen lassen. Mit den Neuankömmlingen aus der Stadt gerät der Strand in Bewegung: Decken werden auf dem feinen weißen Sand ausgebreitet, Kronkorken zischen unter heiterem Lachen und eine leichte Meeresbrise zerzaust die Locken einer Badenden. Das Bild erinnert an eine Szene, wie sie Eduard Graf von Keyserling in seinen Romanen über den baltischen Adel beschrieben hat. Ein Blick auf die Uferpromenade holt den Betrachter wieder in die Realität zurück: Bierbuden und Plastikstühle säumen den Betonweg, aus Lautsprechern dröhnt russische Popmusik und überall wird Russisch gesprochen.
Das war jedoch nicht immer so, denn bis zum Zweiten Weltkrieg gehörte Cranz zur deutschen Provinz Ostpreußen. Nach Kriegsende wurde die deutsche Bevölkerung bis 1948 ausgesiedelt, stattdessen rückten Russen, Weißrussen, Ukrainer und andere Bewohner aus der gesamten Sowjetunion nach. Für Ausländer blieb das Gebiet gesperrt, erst seit den neunziger Jahren entwickelte sich die Provinz zu einem beliebten Reiseziel für ehemalige Ostpreußen und ihre Nachkommen. „Sie kommen in großen Bussen und erinnern sich an früher, wie es in ihrer Kindheit hier aussah“, sagt Lena, eine Kioskverkäuferin. Die Russin präsentiert eine bunte Palette von Postkarten und Broschüren in deutscher Sprache. Auf einer Zeichnung flanieren elegante Damen mit breiten Hutkrempen und bodenlangen Röcken über die Uferpromenade. „Solche Karten werden nur von den Heimwehtouristen gekauft“, wehrt Lena kopfschüttelnd ab.
Die Nostalgie-Touristen sind gern gesehene Gäste, schließlich tragen sie zum Aufschwung der russischen Sonderwirtschaftszone bei, die gerade mal so groß wie Schleswig-Holstein ist. Jeder achte Bewohner sichert sich mit dem Fremdenverkehr seinen Lebensunterhalt. Dennoch ist die Region Kaliningrad für den Massenansturm nicht gewappnet: Rund 3 500 Hotelbetten auf europäischem Standard gibt es hier, schätzt die Russische Touristikvereinigung. Daher gehört Kaliningrad zu den sechs Regionen Russlands, in denen der Staat die Modernisierung der touristischen Infrastruktur vordringlich fördert. Viel Zeit bleibt dazu jedoch nicht, denn im kommenden Jahr erwartet die russische Exklave im Baltikum einen Besucheransturm: Dann feiert das einstige Königsberg sein 750. Jubiläum, das Gebiet Kaliningrad schließt sich dem Fest an und zelebriert den 60. Jahrestag seiner Gründung.
Die meisten Touristen kehren jedoch nicht nur mit Erinnerungen im Gepäck zurück, sondern auch mit Bernstein-Schmuck: Unbearbeitete Ketten kosten hier weniger als einen Euro, handgeschliffene Broschen oder Ringe wechseln bereits für das Fünffache den Besitzer. Auch die „Bernsteinküste“, wie die Ostseestrände hier genannt werden, hat ihren Namen nicht von ungefähr: Gut 90 Prozent des Weltvorkommens der „Göttertränen“ werden im Gebiet Kaliningrad gefördert. In Jantarnyj, früher Palmnicken, befindet sich der größte Bernsteintagebau der Welt.
Und in Swetlogorsk, dem einstigen Rauschen, ist die Uferpromenade mit zahllosen Tischen gepflastert, auf denen schwarzer, gelber oder weißer Bernstein feilgeboten wird. Bernstein – das Gold der Ostsee. Wer müde ist von der frischen Meeresluft und den zahlreichen Bernstein-Händlern, kann sich im „Seestern“ stärken: Das Lokal am Strand von Rauschen ist für seine Königsberger Klopse berühmt und wird von einem Russlanddeutschen betrieben.
Auch Minna ist Russlanddeutsche, eine von 8 000, die heute im Gebiet Kaliningrad leben. Geboren wurde die 50-jährige Schauspielerin im Fernen Osten des Landes, in einem Arbeitslager, fernab der Bahnlinie. Ein Engagement brachte sie ins sibirische Omsk, später folgte sie „ihrem“ Regisseur nach Kaliningrad. Ans Ausreisen ins Land ihrer Vorväter denkt sie jedoch nicht. „Wissen Sie, warum ich so gerne hier lebe? Ich werde es Ihnen zeigen“, sagt sie bestimmt und startet bereits wenige Minuten später ihren Kleinwagen.
Nach einer Überlandfahrt entlang saftiger Rapswiesen kommt sie vor einer Schranke zum Stehen und verschwindet mit einer großen Plastikflasche Bier im Grenzhäuschen. Kurz darauf rollt der Wagen auf die Kurische Nehrung, so das Hinweisschild – eine rund hundert Kilometer lange Landzunge, die zu gleichen Teilen zu Russland und Litauen gehört. „Mein Paradies“, schwärmt Minna. Das Naturschutzgebiet erstreckt sich auf sandigem Untergrund inmitten der Ostsee und ist an kaum einer Stelle breiter als einen Kilometer. Vor allem die bis zu 70 Meter hohen Wanderdünen machen den Landstrich so einzigartig. Damit der Sand jedoch nicht abgetragen wird, wurden bereits im 19. Jahrhundert Gräser und Bäume gepflanzt. Die beiden Ufer verbinden nicht nur Wälder, sondern auch Moore und Schilfufer, die zahlreichen Tieren Zuflucht bieten. Auf einer Aussichtsplattform aus Holz hat man einen guten Blick auf Morskoje, eines der wenigen Dörfer auf der Landzunge. Dahinter beginnt Litauen.
Hunderte von Möwen haben sich auf den Dünen niedergelassen und kreischen um die Wette. Die Kurische Nehrung hat eine große ökologische Bedeutung, auch für Zugvögel: An klaren Tagen können bis zu 2,5 Millionen Tiere am Himmel gesichtet werden, schätzen Experten. Die günstige Lage der Landzunge führte daher bereits 1901 zur Gründung der ersten Vogelwarte der Welt im früheren Rossitten, das jetzt Rybatschij heißt. Der World Wide Fund for Nature (WWF) ist hier stark engagiert und hat ein Informationszentrum für Ökotourismus eingerichtet, das die lokale Bevölkerung über den sanften Tourismus und den Naturschutz in der Region aufklären soll. Auch hier hofft Russland auf Touristen, die einen schönen Tag am Meer genießen wollen – so wie Sergej und seine Clique.
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LESERSERVICE: ANREISE/UNTERKUNFT
Deutsche Staatsbürger benötigen bei der Einreise nach Russland ein Visum, das vom Reiseveranstalter besorgt werden kann.
Individualreisen:
Mit dem Zug: Liegewagen Berlin – Kaliningrad – Berlin ab 160,- Euro, täglich. Rechtzeitig nach Sparpreisen erkundigen (ab 80,- Hin- und Rückfahrt).
Mit dem Flugzeug: Samstags mit Ural Airlines München – Kaliningrad, ab 220 ,- Euro (je nach Abflugtermin). Mit der polnischen Fluggesellschaft LOT (via Warschau) ab Berlin, Frankfurt, München, ab 350,- Euro.
Mit der Fähre: Von Kiel nach Klaipeda/Memel (Litauen), dann mit dem Pkw/Bus über die Kurische Nehrung in die Russische Föderation.
Taxi-Transfer ab Bahnhof/Flughafen Kaliningrad nach Swetlogorsk (Rauschen) oder Selenogradsk (Cranz): Ab 60,- Euro für zwei Personen. Buchbar bei Vostok-Reisen, Berlin. Tel. 030/30 87 10 20, www.vostok.de
Unterkunft in Swetlogorsk (Rauschen) oder Selenogradsk (Cranz): 3-Sterne-Hotel, EZ mit Frühstück ab 50,- Euro, DZ ab 70,- Euro (Durchschnittspreise Mai bis September).
Visa-Service und individuell zugeschnittene Reiseangebote:
Baltic Travel, Hamburg, Tel. 040/227 39 333, www.baltictravel.de
Urania Tours, Frankfurt, Tel. 060/469 99 852, www.urania-tours.net
Gruppenreisen:
Zehn Tage Rundreise durch das Gebiet Kaliningrad, Zuganreise ab Berlin, Halbpension ab 1 290,- Euro im DZ. Nächster Reisetermin Ende August 2004. Buchbar bei: Dr. Koch Reisen, Karlsruhe. Tel. 0721/151 151, www.dr-koch-reisen.de
Acht Tage Gruppenreise Kurische Nehrung, Königsberg und Memelland (Flugreise) ab 995,- Euro. Buchbar bei: Schnieder Reisen – Cara Tours GmbH, Hamburg, Tel. 040/380 20 60, www.baltikum24.de
Literatur:
Beate Kirchner, Jonny Rieder (Hrsg.), Ostseestädte entdecken. Trescher-Reihe-Reisen 2004, 14,95 Euro
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Veronika Wengert