Die letzten Überlebenden des KZ Stutthof
Danzig (n-ost). In den kommenden Wochen wird beispielsweise in ganz Polen des Warschauer Aufstandes gedacht, der am 1. August vor 60 Jahren begann und mit der totalen Zerstörung der Stadt durch die Deutschen endete. Während Negativ-Schlagzeilen für Aufsehen und Bestürzung sorgen, findet im Verborgenen eine faszinierende Versöhnungsarbeit statt.
Das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig ist ein Spiegelbild des komplizierten deutsch-polnischen Verhältnisses. Annäherungen im Kleinen werden immer wieder durch Negativ-Schlagzeilen übertönt: Im Sommer 2003 betrat ein deutscher Tourist mit Hammer und Stemmeisen die Gedenkstätte und demontierte eine Eisentüre an den Verbrennungsöfen. Die brauche er für seinen häuslichen Kamin, erklärte der Mann, als die Wache ihn entdeckte. Im April 2004 erregte dann ein Abendschüler aus Berlin Aufsehen. Nach einer Gruppenführung durch das Lager zerstörte er seinen deutschen Pass und weigerte sich, weiter Deutsch zu sprechen. Sogar mit Selbstmord soll er gedroht haben, als er schließlich von den polnischen Behörden nach Deutschland abgeschoben wurde. Mit der Aufklärung über die Nazi-Vergangenheit in Deutschland könne es nicht weit her sein, mutmaßten Teile der polnischen Presse entsetzt.
Die Versöhnungsarbeit, die rund um das Konzentrationslager Stutthof geleistet wird, ist weniger für Schlagzeilen gut. Doch sie findet statt und führt zu faszinierenden Begegnungen. Zu der von Annika und Josefa zum Beispiel.
Annika Grosch stammt aus Rheinsberg in Brandenburg und ist 20 Jahre alt. Josefa Chomicka wurde 1920 geboren und wohnt in Danzig. Die beiden Frauen trennt nicht nur ein Altersunterschied von 64 Jahren. Josefas gesamte Familie - ihre Eltern, sechs Brüder und eine ältere Schwester - wurde von den Nazis ermordet. Sie selbst hat fünf Jahre Zwangsarbeit im KZ Stutthof überlebt. Doch wenn Annika und Josefa sich treffen, dann umarmen sie sich wie alte Freundinnen.
Die junge Deutsche ist für Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) in Danzig. Drei Tage in der Woche besucht sie ehemalige KZ-Häftlinge, besorgt ihnen Medikamente und Kleidung, kauft für sie ein und füllt Anträge für sie aus und vor allem: Sie leistet ihnen Gesellschaft. „Ein Auschwitz-Häftling sagte mir einmal, es ist wichtig, dass Du kommst, damit ich nicht mit der Wand reden muss”,
Als Annika vor fast einem Jahr nach dem Abitur nach Danzig kam, betrat sie erstmals polnischen Boden und die Sprache konnte sie kaum. Mittlerweile haben ihr die KZ-Überlebenden die Grundlagen beigebracht. „Es gibt sogar einen, der wegen mir jeden Abend fleißig Deutsch lernt. Wenn wir uns treffen, probiert er immer etwas Neues aus”, erzählt die junge Deutsche. Mit Josefa gibt es keine Verständigungsprobleme. Die 84-jährige hat im KZ die Sprache der Täter gelernt. „Das rettete mir das Leben”, vermutet die Polin. Bei Tee und Gebäck erzählt sie von der Verhaftung ihrer Familie auf dem Landgut nahe Bromberg, vom Transport ins Lager und von den KZ-Aufseherinnen mit den schwarzen Uniformen und der Peitsche. „Man rasierte uns die Haare ab, meine Füße waren kaputt von den Holzschuhen. Im Winter mussten wir sogar manchmal barfuß laufen. Manchmal, wenn ich so liege, kommen die Erinnerungen zurück.” Von Verbitterung ist nichts zu spüren, selbst nicht, als Josefa vom Tod ihrer Familienmitglieder erzählt. Stattdessen erwähnt sie die Aufseherin, die ihr mal ein Päckchen mit Essen zugesteckt habe, und vor allem die vielen Deutschen, die ihr seit der Wende in Polen geholfen hätten.
„Die alten Leute unterscheiden klar, zwischen Deutschen und Nazis”, erklärt Annika Grosch. Vierzig Menschen, darunter viele Kranke, hätte sie theoretisch zu betreuen. Doch immer wieder muss Annika die bittere Erfahrung machen, dass ihre Hilfe zu spät kommt, dass Menschen zwischenzeitlich verstorben sind. Zwei Tage in der Woche sind nämlich für die Arbeit mit deutschen Jugendgruppen reserviert. Annika organisiert deren Danzig-Aufenthalt und begleitet sie in die Gedenkstätte Stutthof.
In Stutthof selbst arbeitet ein zweiter Freiwilliger. Markus Gstettner kommt aus Österreich und wurde von der Wiener Organisation „Niemals vergessen” im Rahmen seines Zivildienstes nach Polen entsandt. „Ich bin zuständig für Führungen von Tagesgruppen auf Deutsch und Englisch. Außerdem arbeite ich im Archiv und beantworte Anfragen von ehemaligen Häftlingen oder deren Angehörigen”, erzählt der 26-jährige. Stutthof besitze das am besten erhaltene Archiv aller Konzentrationslager. Anhand von Häftlingspersonalakten, Kommandanturbefehlen, Transportlisten und Korrespondenzen lasse sich das Schicksal von 85 000 der insgesamt 110000 Lagerinsassen zurückverfolgen. Täglich fährt Gstettner von Danzig aus ins 30 Kilometer entfernte KZ unweit der Ostsee. „Ich versuche zu allem die nötige Distanz zu halten. Doch einmal im November 2003 war das Wetter grauslig. Ich holte mir Originaldokumente, sah die Transportlisten von jüdischen Häftlingen, 2000 Leute an einem Tag, Berichte über deren Ankunft. Das ist dann der Moment, wo man versteht, das war an dieser Stelle. Und hier wo ich sitze, war vielleicht der SS-Mann.”
Besonders beeindruckt hat den gelernten Juristen der Kontakt zu einer 18-jährigen Amerikanerin, die um Auskunft über das Schicksal ihrer jüdischen Großcousine bat. „Es hat sich ein sehr berührender Briefwechsel ergeben, in dem das Mädchen schrieb, dass sie nachts von ihrer Cousine träumt und dass sie das nicht loslässt.” Dem Mädchen habe er dann schreiben müssen, dass ihre Verwandte vermutlich nach Auschwitz weiter transportiert wurde. Dort verlor sich ihre Spur.
Den aufsehenerregenden Fall des jungen Deutschen, der nach dem KZ-Besuch seinen Pass verbrannte, hat Gstettner unmittelbar erlebt. „Ich habe die Berliner Gruppe zwei Tage begleitet und schließlich durch das KZ geführt. Währenddessen ist noch nichts passiert, sondern erst am Abend danach. Allerdings war mir der Junge bereits als sehr introvertiert aufgefallen.” Der betreuende Lehrer habe ihm zuvor versichert, dass das Thema im Unterricht behandelt worden sei. Umso mehr habe ihn die Reaktion des Deutschen erschreckt. „Schließlich geht es bei einer Führung nicht darum, ein schlechtes Gewissen zu erzeugen”, sagt Gstettner.
Als historische Wiedergutmachung wollen Annika Grosch und Markus Gstettner ihre einjährige Arbeit in Polen nicht verstanden wissen. „Ich will generell einfach helfen, ist doch egal ob das eine Deutsche macht”, meint die 20-jährige Annika. Dem Österreicher geht es darum, dass Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. Vor allem seit Jörg Haiders FPÖ der Wiener Regierung angehöre, sei diese Tendenz wieder zu spüren. „Österreich hat sich immer als Opfer gesehen. Die Mitverantwortung an den Verbrechen des Nazi-Regimes ist im Gegensatz zu Deutschland nie wirklich aufgearbeitet worden”, kritisiert Gstettner.
Beide Freiwillige hat es über Umwege nach Polen verschlagen, in ein Land, über das es auch in ihrem Bekanntenkreis immer noch viele Vorurteile gebe. „Als ich sagte, ich gehe nach Polen, das Land der Hilfsarbeiter und Putzfrauen, hat das in Wien keiner mehr verstanden”, erinnert sich Markus Gstettner. Beide waren berührt davon, wie positiv sie trotz der schrecklichen gemeinsamen Geschichte dann aufgenommen worden sind. Bei dem Österreicher hat diese ungewohnte Gastfreundschaft und Herzlichkeit eine regelrechte Faszination für das Land erzeugt: „Langfristig möchte ich unbedingt hierher zurückkehren.”
Ende
Infokasten: KZ Stutthof
- nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges als Sammellager für die polnische Intelligenz an der Ostsee errichtet
- 1941 in den Rang eines KZ erhoben
- Befreiung erst am 9. Mai 1945 durch die Rote Armee
- Insgesamt waren etwa 110 000 Menschen aus 25 Nationen interniert, vor allem Polen und Juden
- Etwa 65 000 kamen durch unmenschliche Lebensbedingungen, Vergasung, Genickschuss oder Giftspritze ums Leben
Kontakt: www.stutthof.pl
Folgende Organisationen suchen freiwillige Helfer und sammeln Spenden:
- Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V: www.asf-ev.de
- Maximilian-Kolbe-Werk, Freiburg: www.maximilian-kolbe-werk.de
- Verein „Niemals vergessen”, Wien: www.gedenkdienst.com