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Europa – Diktatur des Massenmedienkitsches?



Von Franka Kühn (Mail: frankakuehn@web.de)


Stuttgart (n-ost). Europa wächst. Doch was Europa eigentlich ist, das haben die 25 Mitgliedsländer der EU noch nicht zufriedenstellend beantwortet. Die desaströse Beteiligung an den Wahlen zum EU-Parlament (Slowakei: 16 Prozent, Tschechien: 27 Prozent, Polen: 20 Prozent, Deutschland: 43 Prozent) beweist die große Skepsis der Menschen gegenüber dem politischen Riesen. Anlässlich der „Stuttgarter Gespräche“, eine von der Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und der Robert Bosch Stiftung ins Leben gerufene Veranstaltungsreihe zu Fragen europäischer Kulturpolitik, versuchen sich Vertreter zahlreiche Kulturinstitutionen, politischer Vertretungen und gemeinnütziger Einrichtungen der Frage zu nähern: Was kann Kulturpolitik leisten in einem Europa, das zusammen wachsen soll? Zum Auftaktsabend am vergangenen Donnerstag eingeladen waren die Partner des Diskussionsforums des tschechischen, slowakischen und ungarischen Konsulates, des tschechischen Kulturzentrums in München und des ungarischen Kulturministeriums sowie des Auswärtigen Amtes und deutsche Kulturmittler, etwa des Institutes für Auslandsbeziehungen sowie der Robert Bosch Stiftung, die sich schon seit Jahren für engere Beziehungen und ein besseres Verständnis zwischen Ost und West engagiert, insbesondere im Hochschul- und Kultursektor.

Der 28-jährige slowakische Erfolgsschriftsteller Michal Hvorecky aus Bratisava provoziert mit der These, Europa sei für seine Generation vor allem ein Phänomen, das einen vereinheitlichten Kitsch per Massenmedien in die Wohnzimmer und damit in die Köpfe transportiert: „Ein Buch vom Slowakischen ins Deutsche zu übersetzen, kostet Jahre der Anstrengung. Die „Europa sucht den Superstar-Show“ läuft synchron zur gleichen Zeit in allen EU-Ländern.“ Wenn diese „Kitschtriumphe“ europäische Kultur meinen, dann sei die EU nichts weiter als eine „Diktatur des Massenkitsches“, so Hvorecky. Der Leiter des tschechischen Kulturzentrums in München, Jan Sicha ist etwa zehn Jahre älter und erinnert sich noch gut an jene Abende in seiner Jugend, als jedes Rockkonzert in Prag von einem Polizeiaufgebot begleitet wurde. „Leber lebe ich im Kitsch, als im Gefängnis.“, so Sicha. Die Menschen müssten erst langsam lernen, dass nach der Zwangskollektivierung ein gemeinsames Europa nicht das einzelne Individuum bedroht. „Es erscheint vielen unvorstellbar, dass nach Moskau nun Brüssel eine menschliche Zentrale sein kann.“

Selbstverständlich ist es Aufgabe der Politik, den europäischen Gedanken klar zu fassen und zu vermitteln. Nur wenig tröstlich erscheint es da, dass gerade eine europäische Verfassung verabschiedet wurde, von der niemand weiß, ob sie jemals in Kraft treten wird. Immerhin haben Europaskeptiker und nationale Stimmungsmacher gerade kräftigen Aufwind im Europa der 25. Die Menschen haben die Zielvorgabe nicht verstanden: Geht es um einen möglichst großen nationalen Zugewinn, der sich vor allem an wirtschaftlichen Wachstumsraten messen lässt? Oder um ein Maximum individueller Freiheiten und Privilegien, etwa beim grenzfreien Reiseverkehr oder zollfreien Geschäften? Oder geht es doch auch um einen europäischen Gedanken, der ein neues zivilisatorisches Moment in das historisch betrachtet in ewiger Zwietracht und Konkurrenz sich gegenseitig bekämpfende Europa bringen soll, um es menschlicher zu machen und auf Dauer zu befrieden?
Die Aufbruchsstimmung der 90er Jahre, die nach dem „Ende der großen Freiheitskämpfe 1989“ einsetzte, sei dahin. Was nun folgt sei der große Katzenjammer, der seine Melodien aus dem Kanon der Klischees und Vorurteile ableitet, so der Tenor innerhalb der Stuttgarter Expertenrunde. Polen klauen eben Autos, die Tschechen trinken zuviel Bier, die Slowaken haben doch noch nicht mal Internet-Anschlüsse, das seinen die spontanen Assoziationen in Hinblick auf die neuen EU-Mitgliedsstaaten. „Arbeitslosigkeit, hübsche Frauen und ein gigantischer Wodkakonsum, so stellt sich der Mitteleuropäer den Osteuropäer gemeinhin vor.“, meint Jan Sicha mit typischem tschechischem schwarzen Humor, wie er selbst hinzufügt. Ein leicht zu merkender Refrain der europäischen Jammerhymne, die allein durch Wiederholung tief eingeprägt wurde und durch ewiges Weitersingen doch nicht besser und schon gar nicht wahrer wird.

Was Europa zu bieten hat an Vielfalt, Möglichkeiten und Perspektiven ist gerade den Jüngeren und den Ärmeren nicht klar - oder es wurde ihnen noch nie ausreichend vermittelt. Das gegenseitige Kennenlernen, das gemeinsame Erleben, der Austausch in Bildung, Wissenschaft und Kultur ist neben der politischen Verantwortung, die auf Europas Schultern lastet, die große Chance zu vermitteln: Europa ist nicht allein Wirtschaftsstandort, sondern auch Bereicherung und Perspektive. Theodor Heuss hat es nach dem Zweiten Weltkrieg, der Geburtsstunde Europas einmal so ausgedrückt: „Kultur geht ohne Wirtschaft. Wirtschaft geht nicht ohne Kultur.“ Das allein kann Grund genug sein, die zarte Pflanzen der europäischen Kulturen zu pflegen. Und die Bestie Massenkitsch zu bändigen. Bei den „Stuttgarter Gesprächen“ ist diese Erkenntnis nicht nur bloße Theorie, längst investieren die Beteiligten Millionenbeträge in die europäische Zukunft und damit vor allem in die Kultur.

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