Rubel statt kostenlose Busfahrten
Veronika Wengert (E-Mail: v_wengert@yahoo.com, Tel. 007-903-195 5181 oder 007-095-248 2330)
Moskau (n-ost). Zu Sowjetzeiten hatten nicht nur Rentner, Kriegsveteranen oder Behinderte zahlreiche Vergünstigungen wie kostenlose Busfahrten oder verbilligte Arzneimittel. Auch Dorfschullehrer oder Arbeiter im hohen Norden Russlands genossen Gehaltszuschläge. Diese Privilegien, die es bis heute gibt, könnten jedoch schon bald der Vergangenheit angehören: Bereits im August soll die neue Sozialreform verabschiedet werden, die das Dickicht der Vergünstigungen in Russland ein wenig erhellen soll.
Wenn Antonina ihre Verwandten besucht, die nur wenige Straßenzüge entfernt leben, benutzt die Moskauerin immer den Trolleybus. Da sie als Rentnerin umsonst mitfährt, spart sie jedes Mal zehn Rubel. Dafür bekommt man in Russland schon einen Laib Brot. Durch diese Freifahrten habe sie mehr Geld zur Verfügung, sagt die Seniorin. Nun fürchte sie sich jedoch vor der bevorstehenden Sozialreform, denn sie wisse nur ungenügend Bescheid über die geplanten Änderungen.
Die Angst um den gewohnten Lebensstandard hat jedoch nicht nur Rentnerin Antonina ergriffen: Landesweit demonstrierten in den vergangenen Tagen zahlreiche Begünstigte, die dem neuen Gesetzesentwurf nicht trauen. Dieser sieht vor, die Vergünstigungen schrittweise bis zum Jahr 2006 zu streichen und stattdessen mit Geld auszugleichen. So sollen Rentner, Behinderte, Helden der Arbeit oder Kriegsveteranen künftig nicht mehr verbilligste Medikamente, Freifahrten mit dem Bus, Ermäßigungen auf die Kaltmiete oder die Telefon-Grundgebühr bekommen – sondern eine etwas höhere Rente.
Kritiker bemängeln, dass das Vergünstigungssystem nicht den Anforderungen an eine soziale Marktwirtschaft entspreche und abgeschafft werden müsse. Die Regierung argumentiert hingegen damit, dass das jetzige System ungerecht sei: So hätten Ermäßigungsberechtigte auf dem Land oft überhaupt keine Vorteile, da es dort weder Telefonleitungen noch ausreichende Busverbindungen gäbe. Oleg Schejn, Gewerkschaftsführer und Duma-Abgeordneter der Partei „Rodina“ (Heimat) fordert hingegen die Verwendung der öffentlichen Gelder genau für solche Zwecke: So könnten seiner Ansicht nach abgelegene Dörfer in der russischen Provinz an das nationale Telefonnetz angeschlossen werden oder neue Busverbindungen auf dem Land eingerichtet werden.
Das Hauptargument der Regierung ist jedoch das undurchsichtige Zahlungsgeflecht: Es sei nicht transparent, welche Behörde für welche Vergünstigungen finanziell aufkommt und wer sie überhaupt nutzt – die Bedürftigen oder andere Personen. Daher sollen die regionalen Haushalte künftig mehr Verantwortung übernehmen und für die Zahlungen aufkommen, so der Plan. Dagegen spricht sich Oppositionspolitiker Schejn jedoch aus: Da von den 89 so genannten Föderationssubjekten 71 auf Unterstützung aus dem föderalen Budget angewiesen sind, könnten sie mit der Auszahlung der Vergünstigungen in Schwierigkeiten geraten – denn solche Summen seien im regionalen Haushalt nicht vorgesehen, sagt Schejn.
Vor solch einem Hintergrund klingen die Klagen von Menschenrechtsorganisationen wie „Memorial“ durchaus berechtigt: Diese fürchten, dass die Bürger um ihre Vergünstigungen kommen und dennoch keinen Rubel vom Staat erhalten werden – da die regionalen Budgets nicht liquide sind. Auch Schejn hält dagegen: „Heute ist der Rubel etwas wert, morgen nicht“, sagte der Politiker vor Journalisten in Moskau.
Gesundheitsminister Michail Surabow bezeichnete die vorgesehene Geldkompensation hingegen als „veränderten Finanzierungsmechanismus“ und nicht als verminderte soziale Unterstützung der Bürger, wie dem Staat in den vergangenen Tagen immer wieder von Interessengruppen vorgeworfen worden war. Derzeit laufen Verhandlungen der Regierung mit führenden Pharma-Gesellschaften und den Russischen Eisenbahnen, um die neuen Vergünstigungen auszuhandeln, betonte der Minister gegenüber der Nachrichtenagentur „RIA-Nowosti“.
Nach offiziellen Schätzungen erhält etwa jeder dritte Erwachsene solche sozialen Privilegien: Das sind zwischen 30 und 40 Millionen Bürger landesweit. Schejn schätzt sogar, dass fast jede Familie in Russland direkt oder indirekt von den Änderungen betroffen sein wird.
Die Höhe des Ausgleichs unterscheidet sich dabei merklich: Während Afghanistan-Veteranen mit bis zu 2 000 Rubel (etwa 58 Euro) Ausgleich rechnen können, beträgt diese Summe für Helden des Krieges bis zu 3 500 Rubel (rund 100 Euro). Doch längst nicht jeder Bedürftige kann mit solchen Zahlen rechnen: Wer durch das Tschernobyl-Unglück gesundheitlich beeinträchtigt wurde, kann ebenso wie ein Invalide auf höchstens 800 Rubel (knapp 23 Euro) Ausgleich hoffen. Je nach dem Grad der Behinderung kann diese Summe jedoch auch um einiges bescheidener ausfallen.
Doch auch in anderen Bereichen wird der Rotstift angesetzt: So sollen die Privilegien für Arbeiter in Russlands hohem Norden gänzlich abgeschafft werden – außer für Bedienstete des Staates wie etwa Richter oder Staatsanwälte. Auch die 25-prozentige Gehaltszulage für Lehrer, Ärzte oder Kulturschaffene auf dem Land soll künftig entfallen. Lehrer könnten zudem künftig auf ihren Zuschuss für Lehrbücher in Höhe von 100 Rubel verzichten – das sind weniger als drei Euro. Der Rotstift betrifft jedoch nicht nur die Erwachsenenen, sondern auch die Jüngsten der Gesellschaft: So soll künftig das monatliche Kindergeld in Höhe von 70 bis 140 Rubel (etwa zwei bis vier Euro) entfallen, aber auch die kostenlose Schulspeisung könnte bald schon der Vergangenheit angehören.
Der Gesetzentwurf soll am 2. Juli in erster Lesung und einen Monat später in zweiter Lesung des Staatsrats behandelt werden. Darüber hinaus ist eine Versammlung der Staatsduma im August vorgesehen, auf der die Gesetzesänderung verabschiedet werden soll. Politische Beobachter schätzen jedoch jetzt schon ein, dass diese Änderungen zumindest teilweise umgesetzt werden dürften.
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