Das Leben spielt anderswo
Das Leben spielt anderswo
Von Veronika Wengert
(Fotos von Ulrike Fischer)
Moskau (n-ost) Die gehetzten Moskauer glauben, dass man seine Kinder in der
Provinz zu besseren Menschen erziehen kann. Auf der anderen Seite beurteilen sie das Leben in Russlands Weiten als langweilig. Trunksucht und Verfall dominieren dort nach ihrer Vorstellung. Karriere lässt sich allein in der Hauptstadt machen: Wahrnehmungsunterschiede zwischen russischen Metropolen und der Provinz sowie gängige Klischees im Lande selbst hat eine aktuelle Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung untersucht.
"Nach Moskau, nach Moskau", klagten bereits die drei Schwestern in Anton
Tschechows gleichnamigem Drama. Jahrelang verklärte das Trio die russische
Hauptstadt mit einem Blick aus der provinziellen Ferne und träumte von einer
Rückkehr in die vermeintlich lebenswertere Metropole. Am Ende erkennen die
drei Frauen resigniert, dass sie der ländlichen Tristesse nicht entrinnen
können.
Ist das Leben in den russischen Weiten wirklich so trostlos, wie ein weit
verbreitetes Klischee vorgaukelt? Und welchen Stellenwert nimmt die
Glitzermetropole Moskau in den Augen der Provinz ein? Fragen dieser Art sind
Soziologen des Instituts für komplexe Gesellschaftsstudien der Russischen
Akademie der Wissenschaften (IKSI) nachgegangen und haben im Auftrag der
Friedrich-Ebert-Stiftung landesweit 1 780 Personen zum Begriffspaar
"Metropolen und Provinzen" befragt. Die Umfrage bezog sich auf das Zentrum
(Moskau und St. Petersburg) und die Peripherie, die wiederum in regionale
Großstädte wie Chabarowsk, Irkutsk und Rostow am Don sowie in "tiefe
Provinz" unterteilt wurde.
"Moskau lässt sich mit fünf Schlagworten charakterisieren", resümiert
Studienleiter Michail Gorschkow und fasst die am häufigsten genannten
positiven Charakteristika zusammen: "Karriere, Bildung, Wohlstand,
Entwicklung und Kultur". Darin stimmen Hauptstädter wie Provinzbewohner
überein und vier von fünf Befragten verbinden "Karriere" ausschließlich mit
der Hauptstadt. Dass man in der Provinz hingegen auch erfolgreich sein kann,
glauben nur sechs Prozent der Moskowiter.
Die "Provinzler" sehen den "typischen" Moskauer als Menschen, der von
Energie und Demokratie beseelt ist. Eigenschaften wie Güte, Offenheit und
Langeweile werden ihm allerdings am wenigsten zugeschrieben -
Charakteristika, die hingegen aus Sicht der Hauptstadtbewohner den Menschen
in der Provinz beschreibt. Doch die Moskauer sind nicht nur mit positiven
Begriffen belegt: So ordnen ihnen die Menschen jenseits der Stadtgrenzen vor
allem Heuchelei, Egoismus und Arroganz zu. Vor allem die St. Petersburger
sind den Moskauern gegenüber noch ein wenig kritischer eingestellt als die
übrigen Landsleute.
Auch die Moskauer haben vorgefertigte Bilder von der russischen Provinz in
ihren Köpfen: Langeweile, Faulheit, Krise, Verfall und Trunksucht - damit
werden die russischen Weiten und ihre Bewohner assoziiert. Den Hang zu
Hochprozentigem unterstellen gar vier von fünf Hauptstädtern ihren
Landsleuten in der Peripherie.
Einige Ansichten fallen jedoch ähnlich aus, unabhängig vom Wohnort: So
glauben die meisten Russen, dass das Leben in der Provinz zwar rückständig
verlaufe, dafür aber mehr menschliche Wärme spürbar sei. Außerdem verlaufe
alles weniger hektisch, in einem zuträglichen Tempo. Eintracht herrscht auch
im Hinblick auf das Klischee "Moskau ist nicht Russland": So könne man das
unverfälschte Russland, die sprichwörtliche russische Seele eben nur in der
Provinz erleben, fernab von Ellenbogenmanie und Verkehrskollaps. In Moskau
lebt es sich dennoch besser als anderswo. Auch darüber sind sich Provinzler
wie Hauptstädter einig. Aber: Seine Kinder zu guten Menschen erziehen - das
gelingt eher in der Provinz, so die einhellige Meinung.
Aber: "Moskau zieht alle Ressourcen an sich, es bereichert sich auf unsere
Kosten" - das empfinden die meisten Provinzler und nur wenige Moskauer. "Es
handelt sich hierbei jedoch nicht um objektive Kriterien, sondern um die
subjektive Auffassung in den Köpfen der Menschen", interpretiert Matthes
Bube, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau, das Ergebnis. Dass der
stärkste Gegensatz im heutigen Russland zwischen Metropolen und Provinzen
besteht, glaubt jeder fünfte Moskauer und jeder dritte Bewohner der
Regionen. Mehr als die Hälfte der Befragten differenziert jedoch zwischen
Arm und Reich sowie zwischen "denen da oben" und dem Volk. Politische
Gesinnung, Glauben oder der Unterschied zwischen den Generationen spielen
hingegen kaum eine Rolle.
Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit, besagt ein russisches Sprichwort.
Daran scheint sich zumindest aus Sicht der Moskauer nichts geändert zu
haben: So unterstellt jeder dritte Hauptstädter den Beamten in den Regionen
Willkür und Allmacht, während diese Meinung nur jeder vierte Bewohner der
Provinz teilt. Der Einfluss der "regionalen Macht" auf die Gesamtentwicklung
Russlands wird entsprechend unterschiedlich wahrgenommen: So glauben 20
Prozent aller Moskauer, dass sich das Allmachtgehabe der örtlichen Beamten
negativ auswirkt - acht Prozent der Provinzbewohner sind hingegen von der
positiven Einflussnahme ihrer Gebietsverwalter überzeugt. Während unter
Moskauern fast alle politischen Organisationen, Gewerkschaften und Parteien
mit überwiegend negativem Image behaftet sind, bewerten die Provinzbewohner
nur die Parteien und die Duma als negative Einflussfaktoren. Eine Ausnahme
bildet jedoch der russische Staatspräsident, an dessen Impulse die meisten
Russen glauben: 57 Prozent aller Moskowiter und gar 70 Prozent aller
Provinzbewohner bewerten den Einfluss Wladimir Putins als positiv für ihr
Land.
Untersucht wurden auch die Reaktionen auf die Verhaftung des Ölmilliardärs
Michail Chodorkowskij: Jeder vierte Moskauer und jeder fünfte
Provinzbewohner befürwortet die Festnahme - nun gehe es endlich gegen die
Reichen, die das Land ausgeraubt haben, so die Meinung. Wie weit der Zar
jedoch wirklich entfernt ist, zeigen die Antworten in der Provinz: Jeder
fünfte kennt weder Chodorkowskij, noch ist seine Verhaftung bekannt. In
Moskau ist hingegen nur jeder sechzehnte nicht informiert über das
Medienereignis des Winters.
*** ENDE***