Russland

Gitarrenpop mit Hammer und Sichel

Omsk (n-ost). Sascha Sokolow ist Geschäftsmann. Seine Firma heißt „Alarm-Service“. Jeden Samstag trifft er sich mit seinen Freunden im „Atlantida“, eine Diskothek für Gutbetuchte im sibirischen Omsk. Es wird ein großer Tisch bestellt, dazu Wodka und kalte Vorspeisen. Doch am letzten Sonnabend war alles anders. Auf der Bühne erblickte der 40-Jährige drei Deutsche und einen Amerikaner. Die Hamburger Band „Tocotronic“ gab ihr musikalisches Gastspiel. „So etwas habe ich noch nie gehört“, sagt der Sibirijaki verblüfft und doch zufrieden.
„Es ist irgendwie absurd“, fasst Dirk von Lowtzow seine Impressionen nach dem Konzert zusammen. Den Backstageraum musste der Sänger fluchtartig verlassen. Ein 12-köpfiges Tanzensemble machte sich fertig für den nächste Auftritt. Dirk sieht müde aus. Immerhin hat er etliche Tausend Kilometer Reise in den Knochen und Ränder unter den Augen. Innerhalb einer Woche absolvierte er zusammen mit den Schlagzeuger Arne Zank, Bassist Jan Müller und Gitarrist Rick McPhail vier Konzerte in Sibirien und stieß überall auf Begeisterung. Obwohl die meisten Zuschauer zwar die Texte nicht verstanden, überzeugte die Band durch musikalische Präsenz. Die Musiker waren zufrieden.
Für alle Beteiligten war es eine Premiere: Tocotronic stellte auf der Tournee erstmalig Songs der bald erscheinenden neuen Platte vor. Allesamt klingen die Lieder rockiger und gradliniger als die früheren Stücke. Sowieso sind die Jungs der so genannten Hamburger Schule in ihrer elfjährigen Bandgeschichte zum ersten Mal in Russland und dann gleich in Sibirien. „Mich verblüffen die Gegensätze“, sagt der Gitarrist Rick, der im Jahre 2000 zu Tocotronic kam. An einem Hochhaus könne man Hammer und Sichel sowie die Werbung einer Computerfirma nebeneinander sehen. Kommunismus und Kommerz in friedlicher Koexistenz?
Für die Versammelten auf der Tanzfläche war der Erstkontakt mit den Musikern aus Deutschland etwas besonders. „Das Konzert war einfach klasse“, jubelt die 25-jährige Alina Karimowa. Sie hatte alle ihre Freundinnen und Freunde zusammen getrommelt, um bei deutscher Popmusik abzufeiern. Was sie dann auch tat. Die junge Frau spricht gut Deutsch und will im Herbst in Frankfurt am Main studieren.
„Mit dieser Band wollen wir besonders die jungen, an Deutschland interessierten Menschen erreichen“, sagt Günter Hasenkamp von Goethe-Institut in Moskau. Im Rahmen der Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen war er für die Auswahl der Bands und anderer Künstler zuständig, die während des Kulturfrühlings in Sibirien und im Ural-Gebiet im Mai und Juni auftraten. Mit „Tocotronic, der Band „Mia“ und dem Orchester „German Brass“ hat der Organisator ein sicheres Händchen bewiesen. Auch für den Kulturherbst an der Wolga hat er noch einige Überraschungen auf Lager. Jüngst wurde die Band „Virginia jetzt“ verpflichtet.
Für Sascha Sokolow endete die Nacht in der Omsker Edeldiskothek wie immer. Langsam schleicht der gewichtige Mann morgens um sechs zum Ausgang. Sein internes Alarmsystem, schon reichlich vom Wodka benebelt, sagte ihm: „Ab nach Hause!“. Zu diesem Zeitpunkt saßen die Jungs von „Tocotronic“ schon im Flugzeug und schliefen selig. Es war eine wahrlich einzigartige Nacht in Omsk, für jeden der Beteiligten auf eine andere Weise.

**Ende** 

Wilhelm Siemers


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