Gemischtes Doppel #14: Schmuddel- statt Tauwetter
Und plötzlich war das Tauwetter da. Jeden Abend zur Primetime. Über zwei Wochen lang zeigte der Erste Kanal, nachdem seine Abendnachrichten Trumps Aufstieg zum US-Präsidenten und Russlands Kriegserfolge in Syrien ausführlich dokumentierten, eine bemerkenswerte 13-teilige Serie. Im Mittelpunkt von „Geheimnisvolle Leidenschaft“, benannt nach einem Roman Wassili Aksjonows, steht das Leben der sowjetischen Literatur-Elite von Jewgenij Jewtuschenko über Bella Achmadulina bis Aksjonow selbst zur Zeit der politischen Tauwetters zum Ende der 50er und zu Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Während im echten Russland also irgendwo Denkmäler für Iwan den Schrecklichen und Büsten von Stalin eingeweiht werden, zwei Symbole außer Kontrolle geratener Staatsmacht, zeigt das Fernsehen die andere, unschöne Seite dieser Macht. Russlands beste Darsteller spielen die Verfolgung von Boris Pasternak, den lächerlichen Schauprozess über Joseph Brodsky, legen sich mit Staatschef Nikita Chruschtschow an und werden rot vor Scham und Wut, als sowjetische Panzer in Prag einrollen. Heute legendäre Barden wie Wyssozkij und Okudschawa feiern mit Bildhauer Neiswestnyj in seinem Atelier, einem Underground-Treffpunkt im damaligen Moskau, während ein gemeinsamer Freund sie im Auftrag des KGB aushorcht.
Der Film ist kein Zufallsprodukt. Über Wochen hatte der staatliche Erste Kanal, der in Deutschland vor allem dadurch Bekanntheit erlangte, dass er den "Fall Lisa" aufblies, für die Serie geworben. Das Interesse heizte zudem die Tatsache an, dass die fertige Produktion ein knappes Jahr im Regal verstaubte, bevor der russische Zuschauer zu sehen bekam. Sollte der jetzige Termin ein politisches Statement sein? Gar ein Zeichen von oben?
Die Neugier war groß, und ebenso groß waren die Erwartungen. Fast alle größeren Zeitungen schreiben Rezensionen. Die meisten davon sind vernichtend. Zu flach die Charaktere, zu hochglänzend die Lebenswirklichkeit mit den schicken Klamotten, Retro-Autos und Parties im Verbandshaus der Literaturschaffenden, die dem heutigen Moskauer Nachtleben erstaunlich ähnlich sehen. Alte KGB-Offiziere erzählen in Interviews, alles sei eigentlich ganz anders gewesen, während nationalistische Publizisten die Gelegenheit nutzen, die Helden des Films als käufliche Opportunisten zu diffamieren.
Trotzdem zeigt die Serie, wie riesig das Interesse der Öffentlichkeit, und sei es auch nur der medialen, an dieser Epoche, dieser kurzen Atempause von der sowjetischen Dauerrepression war. Es ist nicht nur eine Zeit nach der sich beinahe ungeniert nostalgieren lässt. Es ist auch die Sehnsucht nach einem neuen Tauwetter, die sich in der besonderen Aufmerksamkeit für vermeintliche Zeichen aus dem Kreml niederschlägt. Sei es die Ernennung von Sergej Kirijenko zum Vize-Chef der Präsidialadministration, einst ein Liberaler und Weggefährte des ermordeten Boris Nemzow, der sich nun um die Innenpolitik kümmern soll. Oder Russlands neue Bildungsministerin, die einst Stalin lobte und ihn nun als Tyrannen bezeichnete. Dabei zeigt die Geschichte, dass eine neue Tauperiode auch nur zum Schmuddelwetter geraten kann. Denn sie käme von oben und würde ebenfalls den Interessen der Oberen dienen.
Diese Lektion hält übrigens auch die Serie, bei all ihren Schwächen, für den Zuschauer parat. Jede Lockerung von oben ist eine vorübergehende. Das Ende des 13-Teilers ist wenig optimistisch. Nachdem er als Reaktion auf den Einmarsch der Sowjets in Prag einen Roman von einem ausländischen Verlag drucken lässt, wird der Protagonist des Films von den Behörden dazu gedrängt, das Land für immer zu verlassen. Ein Angebot, das er dankend annimmt.
Das Gemischte Doppel gibt persönliche (Ein)-Blicke auf die Ukraine und Russland, geschrieben von Inga Pylypchuk und Ian Bateson (Ukraine) sowie Maxim Kireev und Simon Schütt (Russland). Das Gemischte Doppel ist Teil des Internationalen Presseclubs „Stereoscope“ von n-ost. Für Abonnenten immer montags als Newsletter und auf ostpol.
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