Moldawien

Frust und Nostalgie im ärmsten Land Europas

Wer die Einwohnerzahl der Republik Moldau herausfinden will, braucht gute Nerven. In Ministerien, Botschaften und Redaktionen bekommt man widersprüchliche Aussagen, stößt auf genervte Gesichter oder erntet gar Gelächter. Nach drei Wochen Recherche hat man das Gefühl, einem Staatsgeheimnis auf der Spur zu sein.

Die Republik Moldau liegt zwischen Rumänien und der Ukraine, vor 25 Jahren hat sie ihre Unabhängigkeit erklärt. Ein Vierteljahrhundert später ist das Land nicht nur das Ärmste in Europa, sondern auch Spitzenreiter bei der Abwanderung. Kein Nachfolgestaat der Sowjetunion hat so viele seiner Bürger verloren.


100 Euro verdient ein Lehrer im Monat

Zu den beliebtesten Zielländern gehören Italien, Spanien und Portugal, aber auch Moskau, denn viele Moldauer sprechen gut Russisch. Frauen arbeiten meist in der Alten- und Krankenpflege, Männer verdienen ihr Geld auf dem Bau.

Die Zahlen der letzten Volkszählung von 2014 sind immer noch nicht veröffentlicht. Das deutsche Max-Planck-Institut schätzt den Bevölkerungsstand auf nur noch 2,9 Millionen Menschen. Das würde bedeuten, dass seit der Unabhängigkeit anderthalb Millionen Menschen abgewandert sind.

Der niedrige Lebensstandard, fehlende Jobmöglichkeiten und eine korrupte Politik treiben gerade junge Menschen ins Ausland. Das Einstiegsgehalt eines Lehrers liegt bei etwa 100 Euro im Monat. Ein Großteil der älteren Bevölkerung hat in der Sowjetunion in der Landwirtschaft gearbeitet und bezieht heute eine Rente unter dem Existenzminimum. Ein Bankenskandal, bei dem 2014 eine Milliarde US-Dollar durch faule Kredite und Offshore-Geschäfte spurlos verschwand, hat dazu geführt, dass die Preise im vergangenen Jahr stark gestiegen sind. Gemüse ist heute doppelt so teuer wie noch vor einem Jahr, der Strompreis ist 2016 um 37 Prozent gestiegen.


Igor Dodon ist Moskau-hörig

Die Umstände haben die Moldauer politikverdrossen gemacht. Das hat auch der erste Durchgang der Präsidentenwahl am 30. Oktober gezeigt. 48,5 Prozent der Wähler stimmten für den pro-russischen Sozialistenchef Igor Dodon. Seine liberale Rivalin Maia Sandu kam auf 38,2 Prozent. Am kommenden Sonntag (13. November) stellen sich die Kandidaten der Stichwahl. Es geht nicht nur um ein neues Staatsoberhaupt, sondern auch um ein altes, außenpolitisches Dilemma: Wo ist Moldaus Platz in Europa? Im Osten oder im Westen?

Der Favorit der Stichwahl Igor Dodon macht kein Geheimnis daraus, dass er als Präsident zuerst nach Moskau fliegen würde. Der Chef der sozialistischen Partei (PSRM) gilt als Kreml-Favorit. Seine wichtigsten Ziele: ein Handelsabkommen mit Russland und ein Referendum über die Beziehungen mit der EU.

„Es wäre nicht schwer, aus Moldau eine Perle zu machen“, seufzt Aliona „aber die Regierung investiert das Geld nicht dort, wo es gebraucht wird.“ Aliona, 30 Jahre, blonde lange Haare, perfektes Englisch, spaziert über den Boulevard in Chisinau, Haken schlagend, weil der Beton an vielen Stellen aufgerissen ist. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. Die Stadt ist eine einzige Baustelle. Geländewagen mit getönten Fenstern brausen an Märkten vorbei, auf denen man Bettler und Verkäufer nur schwer auseinanderhalten kann.


Russisches Importverbot für Agrarprodukte

Aliona beschreibt sich selbst als Optimistin, die drauf und dran ist, den Glauben aufzugeben. Ihr Mann, ein studierter Ingenieur, hat ein unregelmäßiges Einkommen, weil er als Handwerker und Bauarbeiter auf Gelegenheitsjobs angewiesen ist. Aliona arbeitet im Büro einer sozialen Einrichtung, sie verdient 160 Euro im Monat. Ihr Mann ist frustriert und will ins Ausland. Doch sie will bleiben – sie hängt trotz allem an ihrem Land.

An Alionas Lebensgeschichte kann man ablesen, mit welchen Problemen Moldau seit seiner Unabhängigkeit zu kämpfen hat. Als die Sowjetunion zerfiel, war Aliona fünf Jahre alt. Ihre Mutter, eine Ärztin, verlor wie so viele ihren Job. „Wir sind mit dem Bus nach Rumänien gefahren, um selbst gesammelte Nüsse zu verkaufen“, erinnert sich Aliona. Die Wirtschaftskrise der Neunzigerjahre trieb die Menschen scharenweise ins Ausland. Alionas Mutter wollte nicht wie andere Müttern ihre Tochter bei Nachbarn, Großmüttern oder Tanten zurücklassen. Erst als Aliona 18 wurde, ging ihre Mutter nach Italien und arbeitet dort noch immer als Altenpflegerin.

Doch nicht nur die Abwanderung ist ein Problem. Zu schaffen macht der heimischen Wirtschaft auch ein russisches Importverbot auf Agrarprodukte aus Moldau. 2014 hatte Moskau das Verbot verhängt, weil die moldauische Regierung über ein Assoziierungsabkommen mit der EU verhandelte. Damit brach ein wichtiger Markt weg: Moldau galt einst als „Garten der Sowjetunion“. Auf dem Land, wo es noch Ziehbrunnen und Häuser ohne Strom gibt, trifft man vor allem alte Menschen, die den kommunistischen Zeiten hinterhertrauen. Sie vermissen den Zusammenhalt in der Nachbarschaft, die stabilen Preise und ein fixes, monatliches Gehalt.

Kandidaten wie Igor Dodon profitieren von dieser Nostalgie. Bei den Parlamentswahlen im Dezember 2014 wurden die Sozialisten überraschend stärkste Kraft – auch wegen des Bankenskandals unter der pro-europäischen Regierung. Aufgrund mangelnder Koalitionspartner kam es jedoch erneut zu einer pro-europäischen Allianz zwischen Liberalen, Demokraten und Liberaldemokraten.


Anerkennung Transnistriens?

Was also passiert, wenn der Russland-Favorit am kommenden Sonntag das Amt übernimmt? „Als Präsident könnte Dodon nicht ohne weiteres das Assoziierungsabkommen mit der EU rückgängig machen“, sagt Denis Cenusa, Polit-Beobachter beim moldauischen Think Tank „Expert-Group“. Wahrscheinlicher sei, dass Dodon weiter für den Beitritt Moldaus zur Eurasischen Wirtschaftsunion werben würde, in dem sich Russland und vier weitere ehemalige Sowjetrepubliken 2015 zusammengetan haben.

Dafür muss Dodon seine Loyalität gegenüber Moskau unter Beweis stellen. „Noch misstrauen die Russen Dodon mehr, als dass sie ihm trauen“, sagt Cenusa. Das liegt daran, dass der Sozialistenchef bis 2011 Mitglied der Partei der Kommunisten war. 2003 legten sich die Kommunisten beim so genannten „Kozak-Plan“ quer, der vorsah, ein Referendum über Moldaus Beziehungen mit Transnistrien, der abtrünnigen Teilrepublik im Osten, abzuhalten. Mit einem Präsident Dodon könnte das Referendum wieder aktuell werden und das pro-russische de-facto-Regime ein Veto-Recht bei außenpolitischen Fragen bekommen. Dafür bräuchte Dodon allerdings eine Mehrheit im Parlament, die ihm derzeit noch fehlt.

Aliona träumt unterdessen davon, dass sie und ihr Mann in Moldau bleiben können und irgendwann die Schulden für ihr Haus abbezahlt sind. Und sie träumt davon, irgendwann schwanger zu werden. Momentan können sie und ihr Mann es sich nicht leisten, ein Baby zu bekommen. Der Staat hat zwar mit einer Erhöhung des Elterngeldes auf die besorgniserregend niedrige Geburtenrate reagiert. Aliona hat durchgerechnet, ob sie unter diesen Umständen für ein Kind aufkommen könnte. Doch das Risiko ist ihr zu groß.


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