In die Vergangenheit geschippert
Scheppernde Marschmusik lässt die Lautsprecher im Flusshafen von Rostow am Don vibrieren: Luftballons und Rosen wechseln den Besitzer, Mütter winken überschwänglich am Pier. Mit einem kräftigen Ruck setzt sich die „MS Michail Scholochow“ schließlich in Bewegung. Irgendwann verschwindet die Betontristesse des Hafens am Horizont und der mächtige Fluss öffnet sich für die gut 4 000 Kilometer lange Fahrt über Don und Wolga, bis nach St. Petersburg. An Bord sind Reisende aus Deutschland und russische Studenten, die nach deutschen Spuren suchen.
Während für die gut 180 Passagiere der MS Michail Scholochow der Urlaub beginnt, stehen der Besatzung sechs Monate Schichtarbeit bevor: Fußböden schrubben, Schnitzel panieren und die Gäste bei Laune halten. Letzteres dürfte nicht ganz einfach sein, denn die meisten Passagiere, die sich auf die diesjährige „Jungfernfahrt“ der MS Scholochow begeben haben, sind anspruchsvolle Senioren aus Deutschlanddie für die 18-tägige Reise nach St. Petersburg viel bezahlt haben. Auf diese Zielgruppe ist das Schiff, das Mitte der achtziger Jahre in der Rostocker Werft gebaut wurde, auch ausgerichtet: Auf Deutsch weisen Hinweistafeln den Weg in die „Bierstube“, zum Friseur oder in die Sauna. Ab sieben Uhr morgens erklingen Wettermeldungen und Morgengrüße auf Deutsch über das Bordradio. Und damit kein Heimweh aufkommt, wechseln sich Krautwickel und Schweinebraten auf dem Speiseplan ab. Schlagerkönig Wolfgang Petry berieselt die Reisenden aus der Konserve und der Euro ist gängiges Zahlungsmittel – ein Stück deutsche Wirklichkeit, wie zwischen Flensburg und Garmisch.
Überhaupt gilt Deutsch als Lingua Franca auf dem Schiff. Auch Kapitän Anatolij Alexejew beherrscht die Sprache fließend, seit er einige Jahre in der DDR gearbeitet hat. In marineblauer Uniform mit glitzernden Goldknöpfen steht er auf der Brücke und beobachtet per Fernglas den Fluss. Die technischen Daten seines Schiffes kann der 44-Jährige im Schlaf herunterbeten, schließlich ist er seit 28 Jahren auf Flüssen und Meeren unterwegs und kennt sich aus: Acht Tonnen Treibstoff braucht sein Schiff täglich, getankt wird erst wieder in Moskau. Das Auffüllen des 129 Meter langen Schiffes mit Kraftstoff dauert gute vier Stunden, erklärt Alexejew fachmännisch. Sieben Tage pro Woche verbringt der Kapitän mit seinen Helfern auf der Brücke. „Erst im Winter mache ich Urlaub“, erklärt er. Ab November muss die MS Scholochow dann allerdings für die nächste Saison ausgebessert werden und so wird Kapitän Alexejew auch in der kalten Jahreszeit auf dem Schiff vorbeischauen. Über Mythen und „Seemannsgarn“ wie die Legende der Loreley kann er nur schmunzeln. „Nein, das gibt es alles nicht auf der Wolga, hier passiert leider nichts Außergewöhnliches“, sagt er.
Auch Anton Gusew ist einer von rund 100 Mitarbeitern an Bord. Für den 21-Jährigen aus Rostow am Don ist es bereits die dritte Saison auf dem Schiff. Von Mai bis Oktober verteilt der 21-Jährige an der Rezeption Schlüssel, gibt Auskunft über das Wetter und nimmt Beschwerden entgegen. „Die Arbeit ist sehr gut für meine Sprachpraxis, denn in Rostow treffe ich kaum deutsche Muttersprachler“, schwärmt der Germanistik-Student. Im Gegensatz zu seinen Bordkollegen, die erst im Herbst wieder in Rostow am Don an Land gehen werden, macht Anton Gusew bereits im Juni einen Zwischenstopp in seiner Heimatstadt – denn in der Prüfungszeit fordert auch die Universität ihren Tribut. Denn erst mit dem Abschlussdiplom könne er als Dolmetscher auf dem Schiff anheuern, so Antons Ansporn.
Bereits nach einer guten Fahrtstunde legt die MS Scholochow wieder an. Diesmal an einem winzigen Holzsteg, auf dem einige Dorfbewohner und eine schnatternde Gänseschar warten: Starotscherkassk ist eine alte Kosakensiedlung mit geduckten Holzhäusern, einer Kirche und einem Kosakenmuseum. Die abgeblätterte Aufschrift „Willkommen“ am verrammelten Café „Kazak“ erinnert auf Deutsch, Englisch und Russisch an bessere Zeiten der Wolgaschifffahrt. Zwei Stunden folgen die Touristen brav Pappschildern mit der Aufschrift „Gruppe 3“ oder „Gruppe 4“, dann sind sie wieder im Bauch des Schiffes verschwunden. Zurück bleiben zufrieden lächelnde Souvenirhändler.
In der Pianobar auf dem Oberdeck der MS Scholochow hat sich unterdessen eine Gruppe versammelt: 35 Studenten und Seminarleiter, die in einem achttägigen Workshop zwischen Rostow am Don und Kasan nach deutschen Spuren suchen. Gemeinsam mit den deutschen Seminarleitern, die vorwiegend als Sprachmittler in Russland tätig sind, arbeiten die russischen und russlanddeutschen Studenten ein Stück Vergangenheit auf: Das traurige Schicksal der deutschen Bevölkerung, die ab 1763 der Einladung von Zarin Katharina II. folgte und sich an den fruchtbaren Wolgaufern ansiedelte – bis sie infolge eines Stalin- Erlasses 1941in die sibirischen Weiten und nach Kasachstan verschleppt wurde. „Ziel unserer Reise ist die Begegnung von jungen Menschen, die sich intensiv mit einem Thema beschäftigen“, erklärt Organisator Eric Wrasse, der als Fachlektor der Robert Bosch Stiftung in Moskau unterrichtet. Die Organisation fördert gemeinsam mit dem Goethe-Institut und der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit den Workshop.
Da alle Seminar-Teilnehmer aus Städten stammen, die an Wolga oder Don liegen, kann jeder etwas über seine Heimatstadt erzählen. Vor Ort erkundet die Gruppe dann die deutschen Spuren in Rostow am Don, Wolgograd, Saratow, Samara und Uljanowsk, bevor sie in Kasan wieder von Bord geht. Als Vorbereitung auf die täglichen Landgänge haben die Studenten eifrig Material gesammelt, Filme und Bücher mitgebracht, Präsentationen und Quiz-Fragen erarbeitet, die sie nun den anderen präsentieren. „Wir wollen den Studenten auch die Augen öffnen für die deutschen Spuren in ihrer eigenen Stadt“, sagt Wrasse.
Dass Geschichte durchaus lebendig aufbereitet werden kann, scheint sich bereits am nächsten Tag unter den anderen Mitreisenden herumgesprochen zu haben, die zaghaft ihre Köpfe in die Pianobar strecken: Vier Studentinnen aus Wolgograd erzählen gerade von „Mutter Heimat“, dem mit 85 Meter höchsten Denkmal Europas auf dem Mamajew-Hügel, dass an die Opfer des Zweiten Weltkriegs erinnert. Bis zu einer Million Menschen sollen im eingekesselten Stalingrad ihr Leben verloren haben – so die Schätzungen.
Die deutschen Spuren in Wolgograd sind jedoch nicht nur mit dem Krieg verknüpft. Sarepta, die erste Siedlung der Wolgadeutschen, ist heute ein Stadtbezirk und eine Art Freilichtmuseum, eine halbe Autostunde vom Flusshafen entfernt. Hier erfand ein gewisser Johann Kaspar Glitsch eine „Dampfmaschine“ zur Verarbeitung von Senfkörnern, die in der Wolgasteppe wild wuchsen: Selbst Zar Alexander I. schätzte das Senföl aus Sarepta und schenkte dem Deutschen dafür eine goldene Uhr, erzählt Studentin Tatjana. Damit sich die Seminarteilnehmer von den deutschen Geschmackstraditionen überzeugen können, teilt die Studentin jedem Teilnehmer eine Tube „Original Sareptaer Senf“ aus. Bis heute befindet sich hier die größte Senffabrik Russlands.
Doch nicht nur die Geschichte der Wolgadeutschen steht im Mittelpunkt der Reise, auch journalistisches Schreiben soll trainiert werden. So erklärt Seminarleiterin Franka Kühn, warum es wichtig ist, Meinung und Kommentar in den Medien voneinander zu trennen. In diesem Moment wird die Berliner Journalistin in ihrem Vortrag unterbrochen. Eine Schleuse hat die Aufmerksamkeit der Studenten auf sich gezogen: Die Zufahrt zum Wolga-Don-Kanal, der 1952 als Lenin-Kanal feierlich eingeweiht wurde. Damals war für die Bewohner Südrusslands ein Traum in Erfüllung gegangen, denn fortan war die Verbindung zwischen Wolga und dem nur 50 Kilometer entfernten Don geschaffen. Wie viele Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter Stalin seiner Vision geopfert hatte, bleibt im Dunkel der Geschichte.
Bereits nach wenigen Tagen haben die Studenten die Scheu vor den Touristen aus Deutschland verloren. Zwischen Abendessen und folkloristischem Akkordeon-Abend trifft man sich zur Fragestunde im Tanzsalon. „Warum kommen sie gerade nach Russland und fahren nicht in die Karibik, wo es viel wärmer ist?“, will Studentin Julia von den Mitreisenden wissen. Die Stimmen aus dem Publikum übertönen sich gegenseitig: „Das kennen wir doch schon alles“. Ein älterer Herr steht auf und erklärt, dass er gemeinsam mit seinen drei Geschwistern auf den Spuren seines Vaters wandelt, der nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr aus Russland zurückgekehrt ist. Die Studenten nicken verständnisvoll, auch sie suchen schließlich nach der Vergangenheit, die „Mütterchen Wolga“ in ihren Fluten verbirgt.
ENDE
Veronika Wengert