Familie statt Verhütung
Wer durch Moskau spaziert, wird sie sehen: die Sex-Shop-Kette „Intim“. Sie hat ihre Filialen strategisch nah am Kunden platziert; Man findet sie in Wohnhäusern, gleich neben Baby- und Lebensmittelläden. Auch im Internet ist Sex Thema: In Portalen wie „The Village“ und „Snob“ veröffentlichen Redakteure Erfahrungsberichte über ferngesteuerte Vibratoren und philosophieren über polygame Beziehungen.
Wer die Artikel liest, kommt nie auf die Idee, dass Menschen wie Jewgenij Kaschtschenko ein Problem haben. Doch der bunte Sex-Kommerz täuscht, weiß der Sexualpsychologe. Sein Schwerpunkt ist Sexualerziehung, er bildet Lehrer und Ärzte weiter und ist stellvertretender Vorsitzender des russischen Sexologen-Verbandes. „Es ist sehr schwer geworden, meinen Job zu machen“, sagt er am Rande eines Vortrags, zu dem ihn das private Center für Sexualerziehung „Secrets“ eingeladen hat.
„Secrets“ erinnert eher an die Reeperbahn als an Pro Familia. Gleich neben den Vortragsräumen können die Zuhörer Strapsen und Sex-Spielzeug kaufen. An den Wänden bewerben Poster Kurse zu Themen wie „Endlich anal genießen“ und „So wird Mann zum Sex-Meister“.
Sex-Kommerz okay, Sexual-Aufklärung nicht
Kaschtschenko und seine Kollegen müssen für ihre Vorträge häufig auf private Einrichtungen ausweichen. Vom russischen Staat wird ihre Arbeit eher behindert als unterstützt. Sex-Kommerz – ja, seriöse Aufklärung – nein, so lautet das Credo der russischen Regierung. „Ich muss ständig aufpassen, was ich wo und zu wem sage“, erzählt Kaschtschenko. Er müsse sichergehen, dass das Publikum bei seinen Vorträgen „erwachsen und einigermaßen tolerant“ sei. Auch die Kursteilnehmer seien vorsichtig geworden: „Lehrer kommen in meine Kurse nur unter der Bedingung, dass niemand etwas erfährt.“ Für Kinder und Jugendliche in Russland sind Sex-Gespräche tabu.
Dafür sorgen zwei Gesetze: Das erste soll Kinder vor „Informationen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung schaden“ schützen. Das zweite richtet sich gegen die Verbreitung „homosexueller Propaganda“. Wer sie bricht, muss mit Geldstrafen rechnen, Lehrer sogar mit Jobverlust. Dafür reicht eine Beschwerde besorgter Eltern. In der Praxis bedeutet das, dass Lehrer, Erzieher und Psychologen keine sexuellen Handlungen vor Kindern erwähnen oder beschreiben. Und dass sie erst recht nicht sagen, dass es neben der Hetero-Ehe auch andere Lebensformen gibt.
Dabei haben russische Jugendliche seriöse Aufklärung bitter nötig. Das Land hat eine der höchsten Abtreibungsraten weltweit sowie wachsende Infektionsraten bei HIV. Auch die Zahlen zum Sexualwissen sind ernüchternd: Nur 34 Prozent der Teenager wissen, wie man eine Schwangerschaft verhindert. Das ergab eine Umfrage des Sexologen-Verbandes aus dem Jahr 2011 unter rund 600 Jugendlichen. Nur 13 Prozent der Befragten gaben an, von den Eltern aufgeklärt worden zu sein
Familie statt Verhütung
Doch statt das Problem anzugehen, setzt die Regierung lieber auf „traditionelle Familienwerte“: Diskussionen um Abtreibungsverbot und Abschaffung von Baby-Klappen prägen die russische Medienlandschaft. Politiker kommunizieren ein extrem konservatives Familienbild. Die Kinderschutzbeauftragte der Regierung etwa ist Mutter von sechs Kindern – mit gerade einmal 34 Jahren. Elena Mizulina, Vorsitzende des Familienausschusses der Duma, hat sich für eine Steuer auf Scheidungen, die Begrenzung von Abtreibungen und Entziehung des Sorgerechts schwuler und lesbischer Eltern ausgesprochen.
In diesem Klima der Feindseligkeit muss Maria Sabunajeva arbeiten. Sie ist eine von rund 100 Psychologen des russischen LGBT-Netzes, einer Nichtregierungsorganisation. Sie berät Menschen, deren Sexualität nicht dem konservativen Muster „Mama, Papa, Kind“ folgt. Bei ihr rufen Leute an mit Fragen wie: „Meine Eltern haben mich rausgeschmissen und drohen, meinen Partner umzubringen. Was kann ich tun, damit sie mich wieder lieben?“. Seit der Einführung der schwulen-feindlichen Gesetze lebe die Homosexuellen-Gemeinschaft in Russland in Angst, erzählt sie. „Viele sitzen auf gepackten Koffern.“
Wer sich outet, landet beim Arzt
Es sei extrem schwer für homosexuelle Jugendliche, verlässliche Informationen zu bekommen. „Wenn man im Internet ‚Schwuler’ eingibt, kommt meist eine Pornoseite“, erläutert sie. Von Eltern sei auch keine Hilfe zu erwarten, weil viele die Auffassung vertreten würden, Homosexualität sei eine Krankheit. Es kann passieren, dass ein Jugendlicher, der sich outet, erst einmal beim Arzt landet“, erzählt sie.
Juristisch begibt sich Sabunajeva bei jedem Anruf auf dünnes Eis. Zwar sei noch kein Psychologe für Aufklärungsarbeit verurteilt worden. „Aber wir arbeiten in einem Graubereich.“ Sie und ihre Kollegen hatten sich deshalb für ein Gesetz über die Gewährleistung psychologischer Hilfe für die russische Bevölkerung eingesetzt. Bis jetzt ist das Gesetz aber nicht beschlossen worden.