Das „gallische Dorf“ vom Donbass
Die Stadt Kramatorsk im Donbass: Drei Monate war sie unter Kontrolle der pro-russischen Separatisten, bis die ukrainische Armee die Stadt im Sommer 2014 zurückeroberte. Seitdem hat sich Kramatorsk zu einer Festung aus Blau-Gelb, den ukrainischen Nationalfarben, gewandelt: Dort, wo früher Lenin über das Zentrum wachte, weht heute eine Ukraine-Fahne. „Ruhm der Ukraine!“, der Schlachtruf der Maidan-Aktivisten, ist in blau-gelben Lettern auf den Boden gemalt. Plakate preisen die Heldentaten der ukrainischen Armee.
Artem Vivdich ist selbst Ausdruck dieses Wandels. Der 26-Jährige kümmerte sich früher wenig um Politik. „Du musst Verantwortung dafür übernehmen, was um dich herum passiert“, sagte er sich erst, als der Krieg vor seiner Haustür ausbrach. „Keine Schlacht wird den Krieg beenden“, davon ist’ Vivdich heute überzeugt. Kein Friedensplan und auch keine Waffen, die Kiew zuletzt von Berlin forderte. Sondern Kindergärten, Sportplätze und Selbstverwaltung.
Seit einem Jahr leitet Vivdich das „Büro für Reformen im Donezker Oblast“, ein Projekt der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und des ukrainischen Regionalministeriums. Vivdich initiiert Projekte, um die Bürger in die Stadtpolitik einzubinden. Zwei Spielplätze, ein Sportplatz und ein Skatepark werden demnächst auf Wunsch der Bürger gebaut. Nicht viel, aber zumindest ein Anfang für eine von Krieg, Krisen und Korruption gebeutelte Kleinstadt.
Nahtstelle des Konflikts
Doch gerade mit dem Krieg ist Kramatorsk aus seinem Provinzschlaf erwacht. Jewgen Wilinsky sitzt im vierten Stock des Rathauses. Kein Schild weist am Eingang darauf hin, dass hier seit fast zwei Jahren auch die ukrainische Bezirksverwaltung sitzt. Mit dem Krieg ist auch die Verwaltung des Donezker Bezirks – oder zumindest das, was noch unter ukrainischer Kontrolle ist – vom separatistisch kontrollierten Donezk nach Kramatorsk umgezogen. Auch das Hauptquartier der ukrainischen „Anti-Terror-Operation“, wie der Krieg bis heute heißt, ist in Kramatorsk. Seit einem Jahr ist Wilinsky als Vize-Gouverneur für Infrastruktur zuständig. Sein Handy und sein Festnetz klingen im Akkord.
Der gebürtige Kiewer scheut keine großen Vergleiche. Immerhin liege Kramatorsk an der Nahtstelle des Konflikts, keine 80 Kilometer von der Front: Hunderte reisen täglich aus den Separatistengebieten auf das ukrainisch kontrollierte Gebiet, um ihre Pensionen zu beziehen oder Lebensmittel einzukaufen. Infrastrukturprojekte in der Höhe von sechs Milliarden Hrywnja (rund 200 Millionen Euro), kofinanziert von internationalen Geldgebern, sollen die Region zu einem „Schaufenster einer erfolgreichen Ukraine“ machen, so Wilinsky. Zum „West-Berlin“ des Donbass.
Kramatorsk lässt indes keine Gelegenheit aus, um den neuen Patriotismus zu huldigen. Am 5. Juli, dem neuen Feiertag zur „Befreiung“ der Stadt, als die pro-russischen Separatisten vor der ukrainischen Armee flohen, gab die ukrainische Songcontest-Gewinnerin Jamala ein Freiluftkonzert. Im Stadtmuseum wird in Ausstellungen die europäische Geschichte des Donbass beschworen. Wer das Wlan im Bahnhof nutzen will, muss nicht nur den allgemeinen Geschäftsbedingungen, sondern auch der „Einheit der Ukraine“ zustimmen.
Soft-Power gegen Seperatismus
„Ein Leben für das Lesen von Büchern“, steht auf Ukrainisch auf einer Hauswand im Zentrum. Es ist ein Zitat des ukrainischen Dichters und sowjetischen Dissidenten Wassyl Stus, der der Straße jetzt den Namen gibt. Früher war hier die „Sozialistenstraße“, aber mit den Gesetzen zur „Entkommunisierung“, die zuletzt vom Parlament beschlossen wurden, sind auch in Kramatorsk sowjetische Straßennamen umbenannt worden.
Katja und David haben das Graffiti gemalt. Die beiden Schüler verbringen jede freie Minute im Jugendzentrum „Wilna Chata“ (zu deutsch: „Hütte der Freiheit“). Ein helles Gassenlokal, Kickertisch, Sitzkissen und Bücherregale. Jugendliche treffen sich hier zu Diskussionen, Lesungen und Kursen. Als der Krieg in den Donbass kam, haben sich junge Freiwillige versammelt, um durch Beschuss zerstörte Häuser wieder aufzubauen. „Aber wir wollten nicht nur die Häuser, sondern auch die Gesellschaft reparieren“, erzählt der Gründer Kolja Dorohow des Jugendzentrums heute. Zuletzt hat der Dichter Serhij Zhadan, eine ukrainische Kultur-Ikone, einige Kisten mit ukrainischen Büchern mitgebracht. Soft-Power gegen den Separatismus.
Doch nicht alle Gräben des Konflikts konnten mit pro-ukrainischem Patriotismus zugeschüttet werden: Die Schmierereien an Häuswänden – für die „Donezker Volksrepublik“ oder „gegen die Faschisten von Kiew“ – wirken zwar eher wie ein Lausbubenstreich. Zudem habe die Zustimmung zur Ukraine und zur EU „gerade in den östlichen Landesteilen“ der ukrainisch kontrollierten Gebiete zugenommen, schreibt die Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) in einem Dossier. Einige Kramatorsker haben dennoch bei der Stadtverwaltung gegen die neuen Straßennamen geklagt. Und dass das Jugendzentrum von einer westukrainischen Stiftung finanziert wird, hat ihm zuletzt in Kramatorsk nicht nur Freunde eingebracht.
Kramatorsk galt bis zuletzt wegen seiner hohen Kriminalität als das „Chicago der Ukraine“. Ob es allerdings zum „West-Berlin“ des Donbass taugt, wie die Aktivisten hoffen, wird sich noch zeigen.